Geschichte ein Phantom

Sepiabraune Postkartenansichten „von damals“, dämmerungsrote Landschaftsimpressionen von heute und ins Off verlängerte Hymnen auf die Heimat: Im Abaton startet Ute Baduras Dokumentation „Schlesiens Wilder Westen“

Badura gibt Zeit für Erinnerungen jenseits nostalgischer Phrasen

von URS RICHTER

Der linke Stammtisch assoziiert bei den Worten „Heimatvertriebene“ oder „Schlesiendeutsche“ ältere Herrschaften in Tracht, die zornesrot aufspringen von ihren Bierkrügen in der Breslauer Mehrzweckhalle, weil Otto Schily ihnen wie zu jedem Jahrestreffen einbläut, dass die polnisch-deutsche Grenze unantastbar bleibt. Deutschtümelei, Ewiggestrigkeit, klebriges Schunkeln mit Neunationalen vermutet man hinter all dieser Empörung und hofft, dass die biologische Uhr den unappetitlichen Auftritten irgendwann den Vorhang zieht. Entgegen solchen Ressentiments versucht die Dokumentaristin Ute Badura mit Schlesiens Wilder Westen einen vorurteilsfreien Blick zu erhaschen auf den Faltenwurf der letzten siebzig Jahre schlesischer Geschichte.

Das Dorf Kopaniec, das früher Seifershau hieß, dient ihr zum Exempel. Ein Tourismusbus der „Club Klasse“ trifft ein und spuckt eine Ladung underberggedopter Ex-Seifershauer aus, heute wohnen sie im Münsterländischen oder im Schwarzwald. Überwältigt von Erinnerung entdecken sie nun in Ruinen den Rest vom heimischen Wandgemälde, und wo jetzt Büsche wuchern, gedieh einst das Café Rosengarten. Abends im Gasthofsaal wird holprig Selbstgereimtes rezitiert und kollektiver Rührseligkeit Lauf gelassen.

Die große Sehnsucht nach Heimat setzte ein, erzählt eine Frau, als nach der „Vertreibung“ 1945/46 der Empfang im Westen Deutschlands sich als ausgesprochen unfreundlich erwies. „Pollacken“ habe man sie dort geschimpft und zum Betteln gezwungen, sie, die ihr ganzes Leben ehrliche Bauern waren. Zu Hause in Schlesien wurden derweil immer mehr gebürtige Polen zwangsangesiedelt, nachdem Stalin auf Malta die polnischen Ostprovinzen für die Sowjetunion beansprucht hatte.

Badura müht sich sichtlich, sowohl der deutschen, wie auch der polnischen Lesart von Nestwärme, Heimatverlust und Kriegsleid gerecht zu werden. Sie gibt Zeit für Erinnerungen jenseits nostalgischer Phrasen und lässt dazu auch ausführlich alte Polen berichten von einem Schlesien, das so ganz und gar nicht dem Idyll entspricht aus den Anekdoten der Deutschen. Allein, die Regisseurin findet keine eigene Stimme innerhalb der dissonanten Polyphonie dieser Erzählungen. Das ungeheure Schicksal zweier polnischer Schwestern, die nach dem Pakt zwischen Hitler und Stalin nach Sibirien deportiert wurden, dort ihre gesamte Familie verloren und später in der Bewerbung um eine polnische Staatsanstellung angeben mussten, sie seien freiwillig gegangen, reiht Badura kommentarlos an Kindheitsgeschichten schwatzhafter „Heimatfreunde“. Warum Schlesien in der unsentimentalen Erinnerung alter Polen vor allem Leid und in der wehleidigen Erinnerung alter Deutscher vor allem Sehnsucht bedeutet, darüber wundern sich im Film nur zwei junge Kopaniecer, die „besser an einem Ort leben können, wenn sie seine Geschichte kennen“.

Genau die aber bleibt in Schlesiens Wilder Westen ein ungreifbares Phantom, das irgendwann mal übers Land hereinbrach und von ausnahmslos allen Völkern Opfer forderte. Dass aber ein bestimmtes Volk dieses Gespenst entfesselte – und zwar nicht erst 1939 – ist der blinde Fleck der Dokumentation. Erst in der Reflexion des Nationalsozialismus jedoch wäre ein analytisches Licht gefallen auf den unterschiedliche Stellenwert, den die „Heimat“ bei den jeweiligen Befragten einnimmt. So aber fehlt dem Film, der sich im Untertitel ausdrücklich einen Heimatfilm nennt, nun eine perspektivische Fragestellung, und etwas harmlos begnügt er sich mit dem Protokollieren unverbindlicher, weil allgemeingültiger Antworten: Zu Hause ist, wo man als Kind im Garten spielte, Mama zum Mittagessen rief oder man gern begraben wäre. Badura unterfüttert diesen schnell hergestellten Konsens durch sepiabraune Postkartenansichten „von damals“, dämmerungsrote Landschaftsimpressionen von heute und verlängert die Hymne der Heimatfreunde umstandslos in die Offmusik : „Wo wir uns fi-hin-den, wohl un-ter Li-hin-den zur A-bend-zeit.“

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