Im Namen des Volkes

Die einen haben es nicht anders erwartet, die anderen sind fassungslos: Das Urteil gegen Mounir El Motassadeq hat ganz unterschiedliche Reaktionen hervorgerufen. Freunde beten, Journalisten drängeln, und der Richter hat seinen letzten Tag

von SANDRA WILSDORF

„Jeder noch einen Schuss“, sagt Richter Albrecht Mentz. Noch ein paar Blitzlichter, und dann ist es vorbei, das Drängeln und Blitzen, Rascheln und Diskutieren der etwa 100 Journalisten aus aller Welt und der Besucher, die gekommen sind, um zu hören, wie das Hamburger Oberlandesgericht im ersten Prozess um die Terroranschläge vom 11. September entscheidet. Es ist wie zum Auftakt am 22. Oktober: Draußen steht der Platz voller Ü-Wagen, Hunde schnüffeln an Reifen, Polizisten patrouillieren. Jeder der drinnen ist, hat eine penible Kontrolle durchlaufen. Nun sind alle Plätze belegt, Spannung breitet sich aus, „im Namen des Volkes ergeht folgendes Urteil“. Übrigens das letzte von Mentz, der nun in Pension geht.

Ein Raunen geht durch den Zuschauerbereich, als Mentz das Urteil verkündet: 15 Jahre für Mounir El Motassadeq, wegen Beihilfe zu Mord in über 3000 Fällen. Motassadeq schüttelt immer wieder den Kopf, lauscht aber konzentriert, was der Richter in seiner etwa zweistündigen Urteilsbegründung über ihn und seine angeblichen Freunde, die Terrorpiloten, ausführt.

Einige Hamburger Freunde des 28-jährigen Marokkaners haben den Prozess von Anfang an verfolgt. Und sie sind auch heute wieder gekommen. Allerdings hätten sie um ein Haar vor der Tür bleiben müssen. Denn nach etwa 30 Besuchern wurde niemand mehr eingelassen – alle Plätze seien besetzt. Die, die einen davon ergattert hatten, sahen plötzlich Richter Mentz persönlich eine ganze Gruppe von Zuschauern des Raumes verweisen. „Das sind Journalisten, die sich statt auf Presse- einfach auf Besucherplätze gesetzt haben“, will eine Frau wissen. „Die sind nicht durch die Kontrollen gegangen“, will jemand anders in Erfahrung gebracht haben. Tatsächlich waren es Polizisten in zivil, die Besuchern Plätze nahmen.

Den Kopf aufgestützt, lauschen Motassadeqs Freunde der Begründung für das harte Urteil. „Wir müssen jetzt erst einmal beten“, sagt einer – was aber nichts mit dem Urteil, sondern mit der Uhrzeit zu tun hat. Und weil die Polizisten das aus den vielen Prozesstagen schon kennen, dürfen die fünf jungen Männer auf dem Gang vor dem Gerichtssaal auf dem Boden gen Mekka beten. Hinterher sagt einer von ihnen: „Jeder, der diesen Prozess verfolgt hat, weiß, dass das Urteil nicht gerecht ist. Aber das Gericht konnte nicht anders entscheiden.“ Zu groß sei der Druck von diesseits und jenseits des Atlantiks gewesen. „Das Urteil war doch von Anfang an beschlossene Sache“, glaubt einer.

Ansonsten schreiten Polizisten über den Gang und mahnen jeden zum Weitergehen, der stehen bleibt und sich unterhält, Kleingruppen werden sofort aufgelöst – „aus Sicherheitsgründen“.

Am Ende sind die Reaktionen der Zuschauer gespalten. „Ich bin total überrascht, habe mit viel weniger gerechnet“, sagt ein Mädchen. Ein anderes findet, „dass er noch zu wenig gekriegt hat“. Er habe das verdient. Befriedigt zeigt sich auch Andreas Schulz, Anwalt der amerikanischen Nebenkläger: „Die Familien der Opfer werden mit der Strafzumessung zufrieden sein.“ Der Kampf gegen den Terrorismus finde auch im Gerichtssaal statt.

Motassadeqs Anwälte hingegen kündigen nach kurzer Rücksprache mit ihrem Mandanten Revision an. Sowohl der Schuldspruch als auch die Strafzumessung seien nicht zu akzeptieren, sagt Anwalt Hartmut Jacobi. Die Beweisführung sei „abenteuerlich“, sein Mandant habe mit „Unverständnis auf den Schuldspruch reagiert“.

Und sein Kollege Hans Leistritz fügt hinzu: „Wenn bedeutende Zeugen nicht zur Verfügung stehen, und die Bundesanwaltschaft Material hat, das keiner von uns hatte, über das sie aber versichert, es stehe schon nichts Wichtiges drin, dann ist das ein Skandal.“ Sicher habe jeder der Ermittler in diesem Prozess unter erheblichem Druck gestanden, „die Frage ist nur, ob man sich dem Druck beugt, oder nicht“.

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