Nachrichten von der Straße

Antje Krüger sammelt Zettel, die Leute an Laternenpfähle hängen. Suche, biete, hab verloren, gefunden. Für die Berlinerin gehören diese Fundstücke zu einer Stadt, wie Muscheln zum Meeresstrand. Nun stellt sie ihre Sammlung in Schöneberg aus

von WALTRAUD SCHWAB

Alles fing Ende der Achtzigerjahre an, als jemand seine Boa Constrictor loswerden wollte. Für 300 Mark war sie zu haben. Eine drei Meter lange Tigerpython hatte er auch noch im Angebot. Kurzerhand schrieb er seine Offerte auf einen Zettel und hängte ihn an einen Laternenpfahl im Schöneberger Kiez. Fürs Exzentrische war der Bezirk bekannt. Dass der Ort aus anderem Grund gut gewählt war, konnte der anonyme Schlangenliebhaber nicht wissen. Es war Antje Krügers Blick, der auf seinem Pamphlet hängen blieb.

Die Berlinerin hat ein Faible für das, was im Alltag geheimnisvoll bleibt. Eine Python, eine Boa Constrictor in der Goltzstraße – Krüger dachte sich die passende Geschichte dazu. Mit eigenwilliger Konsequenz: Nach anfänglichem Zögern hängte sie den Papierfetzen ab und legte ihn bei sich zu Hause in eine Mappe. So wurde er zu einem Dokument. Und zum Anfang einer Sammlung von Mitteilungen direkt aus dem Alltag.

„Die Zettel an Laternenpfählen oder Verkehrsschildern sind eine übersehene Kommunikationsform“, sagt Krüger. Sie haben etwas Altmodisches. Und Liebevolles. Schon dass die Leute das selbst gestalten, rührt die Garderobiere an, „dass sie ihre verlorenen Hasen oder Kanarienvögel, ihre Teddys und Zahnspangen aufmalen und sich an die Öffentlichkeit wenden mit ihrer Hoffnung“, sagt sie. Hoffnung worauf? „Dass jemand es liest. Dass etwas gefunden wird. Dass das Telefon klingelt.“

Seit Krüger die Zettel sammelt, hat sie einen Überblick, was im Angebot ist: „Suche. Biete. Hab verloren. Gefunden. Auch die, die ihren Ärger loswerden wollen, den Adressaten aber nicht kennen, hängen Zettel auf. Oder Menschen, die eine Spur von sich im Stadtbild hinterlassen.“ Die Grafik eines Rehs, die an Fassaden und Straßenschildern überall in Schöneberg, Mitte und Kreuzberg hängt, ist so eine. Zu alldem gesellen sich Äußerungen zu den großen Fragen des Lebens. „Keine Weltreligion wird ausgelassen“, sagt Krüger. Mal als Angebot: „Buddha-Figuren zu kaufen“. Mal als Mahnung: „Moslems sind auch Menschen.“

Derzeit hängen Auszüge aus Krügers Zettelfundus in einem Flur in der Schöneberger Volkshochschule am Barbarossaplatz. Thematisch geordnet hat die Sammlerin sie. Kurioses neben grafisch Gestaltetem, entlaufene Katzen neben rührigen Lebensgeschichten, unfreiwillig Komisches neben Multikulturellem. „In letzter Zeit haben die Mitteilungen auf Chinesisch zugenommen“, sagt die Expertin, die ein Auge für die Zettel entwickelt hat. „Ich sehe sofort, ob ein neuer irgendwo hängt.“

Die Faszination der Sammlerin versteht, wer sich von den kleinen Geschichten, die mitgeteilt werden, ergreifen lässt. Was will einer, der seinen japanischen Koi für 250 Euro loswerden will, wirklich geben, wenn er schreibt: „Man kann ihn streicheln“? Worauf hofft jenes Mädchen aus Hannover, das auf der Love Parade einen Markus getroffen hat und ihn wiedersehen will? „Ich trug Sternchenkontaktlinsen“, schreibt sie. Und was ist mit der Frau, der ein zuckerkranker, einäugiger Mops gestohlen wurde und die in gebrochenem Deutsch mitteilt, dass sie nicht weiter leben kann ohne ihn?

Als Krüger den Zettel sah, traute sie sich nicht, ihn abzuhängen und mitzunehmen. „Zu viel Leid.“ Am nächsten Tag war er verschwunden. Krüger hat sich geärgert. Seither geht sie nicht ohne Tesafilm und Schere aus dem Haus. Sie nimmt die Zettel ab und ersetzt sie durch Kopien. Das Original mit seiner ungeschriebenen Geschichte kommt in ihre Sammlung. Manchmal, wenn sie ihre Fundstücke ordnet, stellt sie sich die Hauptfiguren und Handlungen, die sich dahinter verbergen, vor. „Es ist eine Form des Mitfühlens. Ich nehme die Leute ernst.“ Die Mitteilung vom einäugigen Mops jedenfalls fand sie Tage später noch einmal an einem Baum auf der anderen Seite der Straße.

An der Säule in der Mitte des Flures in der Volkshochschule, dort wo sie ihre Sammlung zeigt, hat sie alte Zettel aufgehängt, wie man es auf den Gängen von Universitäten kennt. Ganz Ästhetik des schwarzen Brettes heißt es da: Gebe Gitarrenunterricht. Suche Wohnungstür. Biete Mitfahrgelegenheit. Jemand hat nicht gemerkt, dass es eine Installation Krügers ist. Er hat ein paar Zettel ab- und seinen dazugehängt. Als „ehemaliger Lehrer“ bietet er nun seine Dienste in Krisenbewältigung an. „Nichts ist zu schwierig“, schreibt er.

Krüger hat als Kind schon gesammelt. In den Ruinen Berlins nach dem Krieg. Farbige Scherben, Stuckstücke wurden ihre Schätze. Sie hat sich daraus Bilder gelegt auf dem Trottoir. Einmal in einem matschigen Winter hat sie farbige Fetzen, die auf dem Boden lagen aufgehoben und konnte die Vielfalt dessen nicht fassen, was ihr vor die Füße kam. Immer sortiert sie das Gefundene, bis es ihr gefällt, und verwirft es wieder.

Am Meer suchen sich die Menschen Muscheln und machen Bilder daraus, auf dem Land arrangieren sie getrocknete Blumen. Ein Stückchen farbiges Papier, das in der Stadt gefunden wird, hat aus Krügers Sicht die gleiche Vollkommenheit. Es gelte die Kultur des städtischen Lebensraums zu akzeptieren. Wenn sie das Gefundene sortiert und ordnet, geht es ihr um die Freude des Moments. Danach verschwindet das Sammelsurium wieder in ihren Schubladen.

Krüger ist Berlinerin. Als solche liebt sie die Stadt, obwohl die Kindergärtnerin, die angewandte Malerei an der Werkkunstschule lernte und jahrelang als Garderobiere im Film gearbeitet hat, sehr viel gereist ist. Gefragt, wo sie überall war, setzt sie zum Aufzählen an, sagt: „Ostafrika“ und hält abrupt inne. Sie mag Aufzählungen nicht. Zu unlebendig. Es sei wie eine tote Sammlung. „Was hätten Sie davon?“ Aus dem gleichen Grund ist sie sparsam, wenn es um Fakten aus ihrem Leben geht. Alter, Familie, Kinder – das sind Festlegungen, die sie nicht mag. Auch dass sie mit Kunzelmann, Langhans und den anderen vor 35 Jahren in der Kommune 1 lebte, ist so eine Markierung. „Sobald es ausgesprochen ist, verändert sich der Blick der Leute auf mich.“ Es ist, als wäre ihr dabei etwas auf die Haut geschrieben worden. Dabei ist ihre einzige Tätowierung, die sie hat, eine Blume am Ringfinger. Es war in Hamburg, sie und eine Freundin kamen bei einem Kneipenbesuch auf die Idee, zur See zu fahren. Um ihre Entschlossenheit zu zeigen, ließen sie sich tätowieren.

Zwei Episoden aus Krügers Vergangenheit. Warum sollte eine mehr Aufmerksamkeit haben als die andere, fragt sie. Viel spannender sei ohnehin das Jetzt und die vielen Möglichkeiten, die es bietet, von denen aber immer nur eine offenbar wird. „Vorher, das liegt hinter mir. Ich versuche im Augenblick anwesend zu sein. Wenn ich das hinkriege, ist es okay.“

Ausstellung bis 2. März in der VHS Schöneberg, Barbarossaplatz 5. Mo.–Fr.: 9 bis 21 Uhr; Sa.+So.: 10 bis 14 Uhr