Frauenpower per Kamera

In indischen Dörfern bekommen „kastenlose“ Analphabetinnen durch selbst gedrehte Videofilme eine Stimme. Entwicklungshelfer fördern den Umgang mit Medien genauso wie ökologischen Anbau

aus Hyderabad SVEN HANSEN

Budidapati Punnemma lebt in einem Dorf im südindischen Bundesstaat Andhra Pradesh. Die 32-jährige Witwe ist eine Dalit, eine „Kastenlose“ oder „Unberührbare“. Damit steht sie im Hinduismus auf der untersten Stufe. Punnemma hat nie eine Schule besucht. Doch vor fünf Jahren lernte sie mit der Videokamera umzugehen. Seitdem dreht Punnemma Filme, obwohl sie bis heute nicht lesen und schreiben kann. 300 Videokassetten voller Aufnahmen hat Punnemna inzwischen zusammen mit einer Kollegin produziert. Die ist auch Dalit und Analphabetin. Die beiden Frauen beherrschen nicht nur die Kamera und konzipieren ihre Filme selbst, sondern machen auch einfache Schnitte. Sie wechseln sich bei der Arbeit ständig ab, was ihnen Sicherheit gibt.

„Wir filmen Probleme in unseren Dörfern und Aktivitäten der Sanghams, unserer dörflichen Frauengruppen“, erklärt Punnemma. „Die Filme zeigen wir bei unseren Treffen.“ Die Frauen dokumentieren das Leben ihres Dorfes und ihre Aktivitäten aus eigener Perspektive mit ihren Bildern. Die drücken aus, was die Frauen nicht schriftlich mitteilen könnten.

Status verbessern

Ihre Dokumentarvideos geben den Dalitfrauen eine Stimme, machen sie sichtbar und selbstbewusst und heben ihren gesellschaftlichen Status. „Indiens Mainstream-Medien berichten immer weniger über solche Dörfer“, meint der ehemalige Filmproduzent P. V. Satheesh. „Deshalb müssen sie ihre eigenen Medien entwickeln, um sich selbst Gehör zu verschaffen.“ Satheesh hatte irgendwann die Nase voll vom üblichen Filmgeschäft. Deshalb gründete er eine Entwicklungsorganisation und begann in abgelegenen Dörfern westlich der Provinzhauptstadt Hyderabad Dalitfrauen in Selbsthilfegruppen zu organisieren. Inzwischen sind es 5.000 Frauen in 75 Gruppen.

In ihren Dörfern führten die Frauen den ökologischen Landbau ein und kehrten zu traditionellem Saatgut zurück. Das produzieren sie selbst mit dem Ziel, verlorene biologische Vielfalt wieder zurückzugewinnen. Die von den Frauen gedrehten Videos zeigen althergebrachte Agrartechniken. Themen sind aber auch die Kinderbetreuung, Dorffeste oder Dialoge mit lokalen Politikern.

„In Zeiten der Globalisierung formen der Markt und die Medien die Ideen über Lebensmittel und Landwirtschaft“, meint Satheesh. Indiens kommerzielle Medien, die von der Ober- und Mittelschicht dominiert würden, propagierten zum Beispiel Reis und Weizen. Deren Anbau sei aber nur auf bewässerbaren oder relativ guten Böden sinnvoll, während traditionelle und widerstandsfähigere Feldfrüchte wie Hirse von den Medien marginalisiert würden. Heute würde dieses traditionelle Getreide nur noch als „Hungerfutter“ wahrgenommen, so Satheesh. Arme Bauern bauten es inzwischen selbst nicht mehr an, weil damit ein Minderwertigkeitskomplex verbunden sei.

Saatgut und Medien

Bei seiner Entwicklungsorganisation stehe die Autonomie über Saatgut und natürliche Ressourcen, über den eigenen Markt und eigene Medien im Mittelpunkt, sagt Satheesh. Die Frauen propagierten in ihren Videos den Anbau traditioneller Getreidesorten, etwa durch eine Serie über Hirsegerichte. Diese Kochshow zeigte sogar ein regionaler Fernsehkanal. „Wir sind sehr stolz, wenn sich jemand von auswärts für unsere Filme interessiert“, sagt Punnemma.

„Da wir von hier stammen, haben die Dalitfrauen uns gegenüber keine Scheu und sagen uns ihre Meinung“, erklärt Laxamamma. Sie ist eine der sieben Frauen, die im Umgang mit der Kamera geschult wurde. Fremden Journalisten gegenüber hätten die Frauen dagegen Hemmungen. Die Videofrauen prägten den Begriff der „Sangham-Perspektive“, also des Blicks auf gleicher Augenhöhe mit gleichberechtigter Kommunikation. Dies stehe im Gegensatz zur „Patel-Perspektive“ von oben nach unten, benannt nach einer Grundbesitzerkaste, und der „Sklavenperspektive“ von unten nach oben.

Der Kommunikationswissenschaftler Vinod Pavarala von der Universität Hyderabad begleitet die Videofrauen wissenschaftlich. „Die Nutzung partizipatorischer Videos zur Entwicklung vernachlässigter Gemeinden wurde in Kanada Ende der 60er-Jahre entwickelt“, erklärt Pavarala. In den Dörfern gebe es kaum Zeitungen, es dominieren staatliche und rein kommerzielle Radio- und TV-Sender. „Die orientieren sich aber immer stärker an urbaner Yuppiekultur und setzen bevorzugt auf Unterhaltung“, so Pavarala.

Hohe Filmqualität

In Indien nutzt die Frauenselbsthilfeorganisation Sewa schon seit 1984 selbst gedrehte Videos zur Bewusstseinsbildung und Mobilisierung. Sewa-Videos schafften es ins indische und ausländische Fernsehen. Das inspirierte auch die Dalitfrauen.

„Trotz der zum Teil guten Qualität der Filme ist aber der partizipatorische Prozess wichtiger als das Produkt selbst“, meint Pavarala. „Die Videos stärken Gemeinschaftsgefühl und Identität.“ So sei eine der Frauen vom Grundbesitzer gebeten worden, zu einer Hochzeitsfeier in sein Haus zu kommen – mit Kamera. Noch nie hätten Dalit das Haus betreten dürfen. Jetzt habe die Frau sogar den Grundbesitzer anweisen müssen, den Fernseher auszuschalten und Licht zu machen. Dabei hätte sie das Gefühl gehabt, so Pavarala, dass der Grundbesitzer nicht nur sie anders wahrnehme, sondern die Dalit insgesamt.