„Das kindliche Gehirn braucht Komplexität“

Gerade kleine Kinder können vom Fernsehen nichts lernen, meint der Psychiater Manfred Spitzer. Die anregungsreiche Waldorfpädagogik dagegen entspreche in vieler Hinsicht den Erkenntnissen moderner Hirnentwicklungsforschung

MANFRED SPITZER, 50, ist ärztlicher Direktor an der Klinik für Psychiatrie in Ulm und Mitbegründer des „Netzwerkes für Gehirnforschung und Schule“.

taz: Herr Spitzer, was passiert im Gehirn eines Kindes, wenn es lernt?

Manfred Spitzer: Während eines Lernprozesses entstehen im Gehirn neue Verknüpfungen. Dabei werden Regelmäßigkeiten, die in der Welt vorhanden sind, abgebildet. Es werden also nicht die einzelnen Fälle abgespeichert, sondern das Allgemeine dahinter. Für eine gute Entwicklung des Gehirns braucht ein Kind deswegen den Umgang mit der Welt in der unterschiedlichsten Komplexität.

Haben unterschiedliche didaktische Methoden überhaupt einen Einfluss auf kindliches Lernen?

Wir dürfen uns nicht zu viele eigene Vorstellungen davon machen, was im Kind passiert, sondern sollten vom Kind ausgehen. Gerade bei Kindern im Kindergartenalter ist es wichtig, dass sie mit Vielfältigkeiten in Kontakt kommen. Ich nenne mal ein ganz banales Beispiel: Wenn ein Kind laufen lernt, braucht es keine didaktische Methode. Es zieht sich immer wieder am Stuhl- oder Tischbein hoch und plumpst hin. Im Kindergehirn bleibt dann aber nicht hängen: „Ich bin gestern beim linken Tischbein auf die rechte Pobacke gefallen“. Das Kind speichert letztlich nur ab, wie es oben bleibt. Genau diese Erfahrungen ermöglichen es, Regeln, die in der Welt vorhanden sind, zu verstehen. Beim Sprechen, beim Verhalten, beim Umgang mit den Dingen.

Wie bewerten Sie die Waldorfpädagogik in Bezug auf eine kindgerechte Entwicklung?

Vieles, was in den Waldorfeinrichtungen gemacht wird – dass man in die Natur geht, dass man musiziert, Geschichten erzählt, viel miteinander spricht –, ist aus Sicht der modernen Hirnforschung genau das, was Kinder brauchen.

Wo ist der Unterschied zu anderen Kindergärten?

Andere Kindergärten machen auch vieles richtig. Aber es gibt zum Beispiel Leute, die sagen, Kinder bräuchten jetzt ganz viele Computer in Kindergärten, damit sie das Tastendrücken lernen. Ich denke, man kann davon ausgehen, dass das den Kindern nicht guttut, und zwar aus einem ganz bestimmten Grund: Sie können von Bildschirmen ziemlich wenig lernen. Das Gehirn arbeitet ununterbrochen, und irgendwas bleibt immer hängen. Da ist springen, tanzen und draußen spielen besser, als vor dem Computer zu sitzen. Diese Auffassung wird auch im Waldorfkindergarten vertreten, und sie ist sinnvoll.

In Vorträgen fordern Sie: Bildschirme raus aus den Kinderzimmern; mehr Chancen für eine kindgerechte Entwicklung. Welche Gefahr geht von Bildschirmen aus?

Untersuchungen zeigen, dass ganz kleine Kinder bis zum Ende des zweiten Lebensjahres von Bildschirmen überhaupt nichts Sinnvolles lernen können. Deswegen kann sich so etwas wie „Babyfernsehen“ negativ auf die geistigen Leistungen eines Kindes auswirken. Bildschirme erzeugen Aufmerksamkeitsstörungen, führen zu einer Intelligenzminderung und zu Lese-Rechtschreib-Störungen. Dazu gibt es Studien. Wer behauptet, Kinder würden im jungen Alter durch den Konsum von Bildschirmmedien schlauer, der lügt schlichtweg.

Differenzieren Sie dabei auch nicht zwischen unterschiedlichen Sendeformaten?

Bis zum Ende des zweiten Lebensjahrs ist es völlig egal, was läuft – die Kinder lernen nichts. Später können sie etwas lernen. Das Dumme ist, dass sie dann meistens das Falsche lernen. 65 Prozent der an Kinder gerichteten Werbung bezieht sich auf Nahrungsmittel, und zwar zu 100 Prozent auf ungesunde. Wir bringen also den Kindern mit unglaublichem finanziellen Werbeaufwand bei, das Falsche zu essen. Die Bundesregierung hat vor ein paar Monaten ein 30 Millionen Euro schweres Programm aufgelegt, um Kindern besseres Essverhalten beizubringen. Wenn man 30 Millionen ausgibt, um Kindern das Richtige, und Milliarden, um ihnen das Falsche beizubringen, kann man sich ausrechnen, wie gut das Geld investiert ist.

Was wäre die Alternative?

Die Engländer haben es zum Beispiel anders gemacht. Die haben im letzten Jahr an Kinder gerichtete Werbung für ungesunde Nahrungsmittel einfach verboten. Und die Schweden haben seit Anfang der 90er-Jahre jegliche an Kinder gerichtete Werbung einfach verboten. Da frag ich mich, warum wir das nicht auch machen können? INTERVIEW: JENNY MARRENBACH