Die Globalisierung heiliger Kühe

Mit einem der größten Entwicklungsprojekte der Welt begann die „weiße Revolution“

aus Anand SVEN HANSEN

Abwechselnd mit der rechten und linken Hand zieht Vidayaben Patel kräftig an zwei Zitzen am Euter ihrer weißen Kuh. Deren Hinterbeine hat die auf einem Stein hockende Kleinbäuerin zusammengebunden. Zum Rhythmus der Bewegungen spritzt die Milch in einen Edelstahleimer. Neugierig schaut die daneben angekettete grauschwarze Büffelkuh herüber. Gleich wird auch sie per Hand gemolken.

Die 50-jährige Vidayaben aus dem 2.000-Einwohner-Dorf Jaur bei der Stadt Anand im Bundesstaat Gujarat an der Grenze zu Pakistan besitzt mit ihrem Mann zwei Kühe sowie eine Büffelkuh. Damit ist sie eine typische indische Milchbäuerin. „Ich habe etwa zwei Stunden Arbeit am Tag mit den Tieren“, sagt sie: morgens und abends melken, jeweils die Milch zur Sammelstelle der Kooperative bringen, die Tiere füttern und den Stall säubern. Ihre Familie mit vier Kindern besitzt ein Viertel Hektar Land. Darauf baut sie neben Reis und Kartoffeln vor allem Futter an. „Für mehr Tiere brauchten wir mehr Land“, sagt Vidayaben. Ihr Mann verdingt sich als Landarbeiter.

Nur sechs Liter Milch geben Vidayabens drei Kühe täglich. Davon behält die Familie zwei Liter für sich, vier bringt Vidayaben zur Sammelstelle der Kooperative am Dorfplatz – zwei Liter morgens und zwei abends. Zu diesen Zeiten stehen dort die Kleinbauern und -bäuerinnen mit ihren Milchkannen Schlange. Meist sind die Männer Mitglied der Milchkooperativen, doch die Arbeit mit den Kühen erledigen zu 80 Prozent Frauen. „Milchbusiness ist Männersache, Melken ist Frauensache“, meint Bhavana Jagdish Patel, die Nachbarin von Vidayaben. Sie ist Analphabetin und trägt wie viele hier den Namen der dominierenden Patelkaste.

In der Kooperative kippt Vidayaben die Milch durch ein Sieb in einen großen Tank. Die Menge wird per Computer dem Milchkonto der Familie gutgeschrieben, zum Jahresende gibt es einen Bonus. Morgens wird das Geld für die täglich abgelieferte Milch ausgezahlt. 35 Rupien, etwa 70 Cent, erhält Vidayaben für ihre vier Liter am Tag. Der Preis richtet sich nach dem Fettgehalt, der sofort mit einem speziellen Gerät ermittelt wird. Indiens Milchbauern haben zu etwa 60 Prozent Kühe und zu 40 Prozent Büffel, entsprechend ist die Milch gemischt. Verarbeitet schmeckt sie wie Kuhmilch in anderen Ländern, auch wenn die fettreichere Büffelmilch würziger ist.

Die Kooperative von Jaur zählt 300 Mitglieder. Hier können die Bauern günstig Futter bekommen, werden bei der Tierhaltung beraten sowie tiermedizinisch betreut und können ihre Kühe besamen lassen. Die Mitglieder der Kooperative kommen aus allen Kasten und Schichten. Täglich liefern sie pro Mitglied einen halben bis 80 Liter Milch ab. Die Dorfkooperative von Jaur ist eine von landesweit 100.000 Kooperativen mit über 11 Millionen Mitgliedern. Die typische Herde zählt zwei bis drei Tiere, die pro Kuh nicht mehr als drei bis vier Liter Milch am Tag produzieren.

Indien produziert auf diese dezentrale Weise mit Kleinbauern und -bäuerinnen wie Vidayaben 84 Millionen Tonnen Milch pro Jahr. Damit ist das Land seit einigen Jahren Selbstversorger bei Milchprodukten und seit 1998 der größte Milchproduzent der Welt. Die Hälfte der Milch kommt gar nicht erst in den Handel, sondern wird von den Bauern und ihren Angehörigen selbst konsumiert. 20 Prozent werden über kleine private Händler in den Dörfern vertrieben, nur 30 Prozent der Milch wird über die Kooperativen und wenige Konzerne vermarktet.

Seit 1970 wurde Indiens Milchwirtschaft im Rahmen der „Operation Flut“ systematisch entwickelt. Die Milchbehörde „National Dairy Development Board“ (NDDB) in Anand, in der Zuchtexperten, Volkswirte und andere Wissenschaftler sitzen, begleitet die Expansion der Milchwirtschaft systematisch. Mit einem der größten Enwicklungsprojekte der Welt begann die so genannte weiße Revolution. Die hat dazu geführt, dass sich Indiens Milchproduktion seitdem mehr als vervierfacht hat. Die Europäische Union, die damals noch Europäische Wirtschaftsgemeinschaft hieß, stellte eigene Überschüsse an Milchprodukten zum Aufbau der indischen Milchwirtschaft kostenlos zur Verfügung. Bis dahin war Indiens Milchmarkt nur wenig kommerzialisiert. Milch war ein Luxus für die städtische Ober- und Mittelschicht oder wurde im Umfeld der Erzeuger in den Dörfern selbst konsumiert. Ohnehin verdirbt in Indien ungekühlte Milch schon nach etwa drei Stunden.

Mit den europäischen Milchüberschüssen wurde die Bevölkerung in Indiens Metropolen „angefüttert“, also auf den Geschmack des Milchkonsums gebracht und an eine regelmäßige und hochwertige Versorgung mit Milchprodukten gewöhnt. Die Einnahmen aus den europäischen Milchpulver-, Butteröl- und Butterspenden von 429.000, 108.000 und 34.000 Tonnen wurden in die Entwicklung der indischen Milchwirtschaft gesteckt, also den Aufbau von Molkereien, Kühlsystemen, Verpackungsanlagen Vertriebswegen und Erzeugerkooperativen. Es war das erste Mal, dass Lebensmittelspenden in großem Maßstab als Entwicklungshilfe genutzt wurden. Hinzu kamen später noch Kredite der Weltbank. 1996 endete die europäische Unterstützung für die indische Milchwirtschaft.

Das Projekt war nie unumstritten, unter anderem weil die Milch den armen Subsistenzbauern quasi genommen und an reichere Städter verkauft werden sollte. Auch blieben die Kasten- und Machtstrukturen in den Dörfern unangetastet. Heute bescheinigen jedoch auch Kritiker dem Projekt Erfolge. So wurde die Versorgung mit Milch gesteigert und das verfügbare Haushaltseinkommen von Millionen Kleinbauern erhöht.

Für Indiens Milchbehörde NDDB steht die Versorgung des heimischen Markts im Vordergrund. In Zeiten der Globalisierung müsse Indien heute jedoch auch zum Export bereit sein, meint die NDDB-Vorsitzende Amrita Patel. Dabei konkurriert das Land nicht nur auf dem Weltmarkt mit hoch subventionierten Milchprodukten der EU. Vielmehr droht Indien auf seinem Binnenmarkt das Dumping, also der Verkauf unter den Produktionskosten, von Milchprodukten aus der EU.

Eine Warnung gab es im Finanzjahr 1999/2000. Da stiegen Indiens Magermilchimporte aus der EU auf 18.000 Tonnen an, der Inlandspreis für Milch sank um 15 Prozent. Zwar gingen die Importe aus der EU inzwischen wieder zurück, doch Amrita Patel ist alarmiert: „Das Dumping von Milchprodukten ist in Indien möglich.“ Die NDDB-Chefin macht dafür die Bestimmungen der Welthandelsorganisation (WTO) verantwortlich. So dürfe Indien beim Import der ersten 10.000 Tonnen Magermilchpulver nur einen Schutzzoll von maximal 15 Prozent erheben, bei darüber hinaus gehenden Mengen 60 Prozent. „Wir brauchten aber 75 Prozent, damit unsere günstigeren Produktion mit den subventionierten EU-Exporten konkurrenzfähig sind.“ Umgekehrt dürfe die EU ihren Markt vor indischer Milch mit 90 Prozent Zoll schützen, denn traditionell hatte Europa noch höhere Zollsätze.

Die 600 Millionen ärmsten Inder leben von weniger als einem Euro am Tag, während die EU jede ihrer Kühe mit zwei Euro täglich subventioniert. Indien selbst kann sich keine Subventionen leisten, doch die EU hält ohnehin mit aus indischer Sicht nicht nachvollziehbaren Gesundheitsvorschriften die asiatische Konkurrenz auf Abstand.

Indien würde heute noch ausreichenden Zollschutz haben, hätte die Regierung es nicht versäumt, vor den WTO-Verhandlungen in den 90er-Jahren die Importzölle anzuheben, meint Amrita Patel. „Seitdem bedrängen wir unsere Regierung, nachzuverhandeln, um uns vor Dumping schützen zu können.“ Bisher ohne Erfolg. NDDB-Manager Deepak Tikku ist pessimistisch. Im globalen Wettbewerb werde Indiens Milchwirtschaft angesichts mangelnden Zollschutzes die Produktivität steigern müssen, da sonst der Import der Milch hoch subventionierter Turbokühe günstiger sei, als die Milch aufwändig von Indiens heiligen Kühen einzusammeln. „Das könnte aber bedeuten, dass unsere Kleinbauern auf lange Sicht die Milchwirtschaft aufgeben müssen“, fürchtet er.

Vidayaben Patel melkt ihre Kühe mit routiniertem Griff. Vom drohenden Dumping und den Auswirkungen der Welthandelsregeln auf den Preis ihrer Milch weiß sie nichts. Sie weiß nur: Die Milch ermöglicht ihrer Familie, die jüngste Tochter aufs College zu schicken. Noch.