In einem zerfließenden Leben

… Zehn Minuten später kommt sie zurück. „Ach, da sind Sie ja“, sagt sie und gibt allen freundlich die Hand

aus Berlin WALTRAUD SCHWAB

Sie wollte nie eine Prinzessin sein, dann schon lieber eine Magd. Hulda Groß * umschließt ein imaginäres Euter und zeigt, wie sie abwechselnd und rhythmisch daran zieht, als melke sie eine Kuh. „Für was Hochgestelltes war ich nicht“, sagt die 86-Jährige. „Früher habt ihr ‚Zigeuner‘ zu mir gesagt.“ Sie wird es oft wiederholen an diesem Tag.

Genauso oft wird sie den Zeigefinger an ihren Mund legen und die Augen verdrehen: „Ich sein ein liebes Kind.“ Die Geste erinnert an einen Vamp aus Stummfilmzeiten, gepaart mit dem, was sich von den Jahren harter Wirklichkeit in ihrem Gedächtnis gehalten hat. Groß sitzt auf dem Sofa in der Wohnküche der Wohngemeinschaft. Sie trägt eine ärmellose Schürze über dem Kleid und weigert sich, Hausarbeit zu machen. Davon hatte sie in ihrem ersten Leben genug. Das ahnt sie.

Die alte Frau mit den rot gefärbten Haaren hat Alzheimer. Ihre drei Mitbewohnerinnen und die zwei Mitbewohner auch. Vor kurzem ist eine Frau gestorben. Die Müllsäcke, in die ihre Habe verstaut wurde, stehen noch im Zimmer. „Zehn Jahre etwa liegen zwischen den ersten Anzeichen der Demenz und dem Tod“, sagt Sylvia Friede, die Altenpflegerin. „Eine heimtückische Krankheit. Schleichend, unumkehrbar.“

Der Weg zum dritten Hinterhof des Kreuzberger Mietshauses, dort wo der ebenerdige Eingang in die Siebenzimmerwohnung liegt, ist eine Reise zurück in die Anfänge des letzten Jahrhunderts: Durchgang. Hof. Durchgang. Hof. Durchgang. Hof. Grauer Beton. Nur im zweiten Innenhof ist ein kleiner Garten. Die Wohngemeinschaft grenzt daran. „Wachsen wird hier nichts“, sagt Else Banak enttäuscht. Keine Sonnenblumen, keine Rosen. Zu viel Schatten. „Das ist das Schlimmste: dass ich meinen Garten nicht mehr habe“, sagt Banak. Sie beim Nachnamen, Frau Banak, zu nennen, will nicht passen. Zu funktional, wo es doch darum geht, nicht mehr funktionieren zu können. Oder zu müssen. Ich nenne sie Else. Dazu die höfliche Anrede. Sie, Else. Es ist eine Frage der Zuneigung. Und es passt zur Zeitreise, die Demente erleben: Zurück in die Vergangenheit, zurück in die Vornamenwelt. Das Alte, Festgefügte, das lang Erinnerte bleibt ihnen am längsten. Was heute ist, wissen sie morgen nicht mehr.

Vergesslichkeit heißt dieses Phänomen am Anfang der Krankheit. Danach Befremden. Dann Verwirrung, verbunden mit Unruhe, Angst. Aus einer Welt, in der alles seine Ordnung hat, wird für die Dementen ein Chaos. Else Banak geht es so. Vor einer Woche ist die 79-Jährige eingezogen. Für sie schon eine Ewigkeit. „Monate lebe ich hier“, sagt sie. „Bis zuletzt habe ich mit meiner Großmutter im Garten gewohnt. Jetzt wird alles so gedreht, dass ich krank bin. Alzheimer sagen sie. Ich soll Alzheimer haben.“ Sie kann ihr Unglück nicht fassen.

Die Betreuerin tröstet: „Ihren Garten haben Sie noch. Am Wochenende bringt Ihre Tochter Sie hin.“ Der Trost verhallt. Else steht auf. „Ich muss jetzt gehen.“ Sie zieht sich an, verabschiedet sich. Eine Betreuerin begleitet sie auf die Straße. Zehn Minuten später kommt sie zurück. „Ach, da sind Sie wieder“, sagt sie zu den Mitbewohnerinnen. Freundlich gibt sie allen die Hand. Eine Viertelstunde später verabschiedet sie sich erneut. Es muss ein Albtraum sein, in den sie geraten ist. Die alte Frau geht und landet doch ständig wieder an dem Ort, den sie verlassen hat. Wie bei Hase und Igel sind die anderen immer schon da. Ein halbes Jahr dauere die Eingewöhnungszeit, sagt die Pflegerin.

Die erste betreute Wohngemeinschaft wurde 1995 in Berlin gegründet. Angehörige mieteten zusammen eine große Wohnung und legten die Kosten für die Pflege um. Ständig muss jemand für die Dementen da sein, muss aufpassen, muss Hilfestellung leisten, muss aus einer zerfließenden Welt eine überschaubare machen. Eine, die Menschen, die sich zurückentwickeln, noch kontrollieren können.

In dem Kreuzberger Hinterhaus spielt sich das Leben in der Wohnküche ab. Leute kommen und gehen. Betreuerinnen, Postboten, Freunde, Fremde. Manche bringen etwas mit. Eine Pflegerin stellt Hulda eine Schale Bonbons hin. Vitaminbonbons. „Hauptsache süß.“ Mit ihr am Tisch sitzt Zita Schmidt. Mit 71 Jahren ist sie die Jüngste. Halbseitig gelähmt, mit traurigem Blick und grazilen Händen. Die Fingernägel perlmuttfarben lackiert. Reden strengt sie an. „Davon geht die Welt nicht unter“, singt Zarah Leander im Hintergrund. Alles, was die Kranken aus der Vergangenheit kennen, gibt ihnen Halt.

Hulda Groß, die Neugierige, sieht mich Notizen machen. „Das kann ich auch“, sagt sie. Ich schiebe ihr das Heft hin. In unsicherer Sütterlinschrift schreibt sie „H u l d a G r o ß“. Sylvia Friede, die verantwortliche Pflegerin, fragt, ob sie nicht alte Fotos zeigen wolle. Sie holt sie. Eine schöne Frau. Dunkle Augen. Schwarze Haare. „Sie hatte ein schweres Leben“, sagt Friede. Von einer Rabenmutter, einem Mädchenheim ist die Rede, von einem Stiefvater. Dass der das Mädchen mochte, soll der Mutter nicht gepasst haben. „Da hat meine Alte gemeckert, da bin ich unter ihrer Hand abgehauen“, erzählt die alte Frau.

„Wir müssen so viel wie möglich aus der Vergangenheit der Kranken wissen“, sagt Friede. „Nur so können wir sie verstehen und über einen langen Zeitraum auch erreichen.“ Ob Hulda Groß der Herkunft nach Sinti oder Roma ist, ist unklar. Bekannt ist aus den Gesprächen mit ihr jedoch: Sie wurde in der Nazizeit zwangssterilisiert. Kinder konnte sie keine bekommen. „Das hat er mir ja versaut“, sagt sie. Wer – er? „Hitler“, antwortet sie. „Aber spät in Ihrem Leben gab es noch einen Alfons, Ihre große Liebe“, lockt Friede. „Ich weiß gar nicht, ob ich den noch habe“, antwortet sie.

Wohnzimmer und Küche, in denen wie überall die Möbel der Kranken stehen, sind nicht voneinander getrennt. Das hilft bei der Orientierung. So ist Essen mit Kochen verbunden, Durst mit einem Kühlschrank, in dem was zum Trinken steht, Aufräumen mit einem Mülleimer. Eine Tür ist für die Dementen ein Hindernis. „Wie oft stehen sie vor ihrem Zimmer und wissen nicht, wo es ist. Wie oft sucht Moritz Carstens das Klo und steht doch davor“, sagt die Pflegerin. Der ehemalige Kapitän ist ein weißhaariger, weißbärtiger Mann. An der Tür seines Zimmers hängt ein Plakat, auf dem Seemannsknoten abgebildet sind. Darauf angesprochen sagt er: „Das sieht schön aus, aber es kommt darauf an, was am anderen Ende des Seils ist.“ Ein Schiff? „Augenblick“, sagt er. Er geht in sein Zimmer, rumort hinter der Tür, kommt zurück und zeigt seinen Fisch. „Den hat mir jemand gegeben.“

Die Mahlzeiten strukturieren in der Wohngemeinschaft den Tag. Frühstück um 9, Mittagessen um 12, Kaffee um 15 und Abendessen um 18 Uhr. Vor dem Frühstück: Waschen, Windeln, Anziehen. Zita Schmidt, die Frau mit den schönen Händen, sitzt im Rollstuhl und muss auf wund gelegene Stellen untersucht werden. Ebenso Felicitas Jotter, die Älteste, die mit der durchdringenden Stimme. „Schwester!“, ruft sie an manchen Tagen im Zwei-Minuten-Rhythmus. Wenn sie gefragt wird, was sie möchte, weiß sie es nicht.

„Über die Gefühlsebene können Demente sehr lange wahrnehmen“, sagt Sylvia Friede. Gepierct ist die Pflegerin. Eine, die in der DDR Ärger hatte, weil sie abhauen wollte. TripHop-Fan. „Zuversicht, Eifersucht, Wut, Aggression – alles ganz normal hier“, sagt sie. Felicitas Jotter bekommt den meisten Frust in der Wohngemeinschaft ab. Vor allem Hulda schießt Pfeile in ihre Richtung. „Wo Schnaps nicht hilft und die Natur, da hilft auch keine Liegekur.“

„Ich muss jetzt gehen“, sagt Else und verabschiedet sich. Eine Betreuerin begleitetsie auf die Straße …

Mindestens zwei Betreuerinnen sind tagsüber da. Neben der Pflege erledigen sie die Hausarbeit. Dabei werden die Dementen einbezogen. Kartoffeln schälen, Wäsche zusammenlegen, den Tisch decken. Solange sie es können, muss es geübt werden. Jeden Tag neu. Else Banak fügt sich leicht in die Routine. Sie kennt das. War Hausfrau, Mutter, Schneiderin. Im Krieg hat sie Fallschirme genäht, sagt sie. Der ehemalige Kapitän wiederum ist beim Einkaufen dabei. Ein freundlicher alter Herr ist er. Früher soll er ein Tyrann gewesen sein. Die Krankheit hat einen anderen aus ihm gemacht. Im Supermarkt kennt man ihn. Grüßt.

Nachmittags ist Programm. Demente brauchen ständig gesellschaftliche und geistige Anregung, um den Zerfallsprozess hinauszuzögern. An diesem Wintertag wird „Mensch ärgere dich nicht“ gespielt. Hulda vergisst bei jedem Spielzug, dass sie die roten Figuren hat. Der Kapitän wiederum muss davon überzeugt werden, nicht in Gegenrichtung zu fahren. Zita Schmidt im Rollstuhl kann nur würfeln. Eine Pflegerin hilft, umschließt ihre schönen Hände, wärmt sie. Über das Gesicht der kranken Frau zieht so etwas wie Glück. Felicitas Jotter, die Älteste, macht die wenigsten Fehler. Allerdings ist sie schwerhörig. „Der müssen Sie die Ohren auspusten“, brüllt Hulda über den Tisch, und der Kapitän wirft lieber sie raus anstatt Zita, als er die Wahl hat. „Die Welt ist ungerecht“, sagt die Pflegerin. Hulda Groß antwort: „Das war schon immer so.“

„Ich gehe jetzt nach Hause“, sagt Else und gibt dem Kapitän, für den alles Pflichterfüllung ist, die Hand. „Schaffen Sie das?“, fragt er gütig. „Ja“, antwortet sie. „Hier ist doch ihr Zuhause. Auch Ihre Katze ist da“, meint eine Pflegerin. „Mein Mäuschen?“ Sie rennt in ihr Zimmer, findet den fetten Kater unterm Bett, lockt ihn hervor, umarmt ihn, wickelt ihn in eine Decke, liebkost ihn. „Mein Mäuschen.“ Wenigstens er.

„Tabus gibt es hier nicht“, sagt Sylvia Friede. Wenn möglich leben die Kranken bis zu ihrem Tod in der Wohngemeinschaft. Die Weggefährten und -gefährtinnen werden in den Abschied von den Sterbenden mit einbezogen. „Auch uns, die Betreuerinnen, verändert das Leben mit den Dementen“, sagt die Pflegerin. „Wir wissen, wie es ausgeht.“ Hulda unterbricht das Gespräch, legt ihren Finger an den Mund. „Ich sein ein liebes Kind“, sagt sie mit verdrehten Augen. Sie will im Mittelpunkt stehen. Wo waren Sie in ihrem Leben am liebsten, frage ich sie. „Dort, wo ,Lustig ist das Zigeunerleben‘ gesungen wird.“

* Namen aller Bewohner geändert