Der letzte Tabubrecher

Neue Forschungen: Holger Sudau ist aus Kunst und Wissenschaft kaum wegzudenken

Wer war diese sagenhafte Gestalt, die überall in der Fachwelt an allen möglichen Stellen zitiert wird oder als unbestechliche Referenzgröße auftaucht? Nun, zunächst einmal der letzte wirkliche Tabubrecher, aber auch ein unbeirrbarer Mahner und Welterklärer, ein riesengroßer Schlauberger und Molekulartheologe, ein Weltraumwissenschaftler und Beifahrer, der aus Kunst und Wissenschaft kaum wegzudenken wäre, an den sich aber nicht mal Freunde oder direkt Betroffene erinnern. Ein Mann mit neunhundertneunundneunzig Gesichtern und doch selbst seinen engsten Vertrauten, seinen Eltern sogar, ein gänzlich Unbekannter. Und das alles in der sausackdummen Ostzone! So steht es in unseren Geschichtsbüchern. Holger Sudau – ein Phantom?

Lassen wir zunächst die Fakten sprechen: 1961 wurde Holger Sudau geboren, so viel ist schon mal ungefähr klar. Doch mit seinem irrtümlichen Verschwinden, 1990, verlieren sich auch seine Spuren. Was verbirgt sich wirklich hinter der Fassade dieses Protagonisten einer aussterbenden Gattung – der Universaltölpel, der Torkelnden zwischen den Welten? Wie ist der Mensch Holger Sudau gewesen? Inzwischen sind einige Materialien zu diesen hoch intensiven 29 Jahren in mühevoller Kleinarbeit zutage gefördert und im Bestand gesichert worden. So ist die 1969er Taschengelderhöhung inzwischen anerkannte Tatsache. Durch simples Nachrechnen konnte für 1966 ein durchschnittliches Lebensalter von fünf (5) Jahren ermittelt werden. Genau zehn Jahre später hat Sudau nachweislich begonnen, vorübergehend Seitenscheitel und einen dicken Plastikstielkamm in der rechten Gesäßtasche seiner Jeans zu tragen. Unbequeme Wahrheiten, aber man sollte sich ihnen stellen. Wie man heimlich das Klavierspielen verlernt – seine Erfindung! Seine unbewaffneten Pilgerfahrten gen Polen? Jenseits der Oder-Neiße-Linie ein integraler Bestandteil des slawischen Sagenschatzes. Der von ihm wiederentdeckte Landweg nach Mecklenburg-Vorpommern? Noch heute keine Selbstverständlichkeit. Sudaus spielerischer Umgang mit Erfrischungsgetränken? Ein Vorbild für viele orientierungslose junge Menschen – wenn sie davon wüssten! Nur wenige Frauen, die auf sich halten, kennen sein Thesenpapier über die moderne Damenbrust – sie würden mit den Ohren schlackern! Sein legendäres Patentrezeptebuch? Gab es. Wahrscheinlich. Na und?

Gleichwohl ist es ganz schön wenig, worauf sich die aktuellen Thesen sonst noch stützen lassen, um ein plastisches Bild dieser ausgesprochen widersprüchlichen Figur für eine breitere kritische Öffentlichkeit zu formen. Holger Sudaus zum Teil aberwitzig verworrene Aufzeichnungen, eine Hand voll komplett verwackelter Fotos, willkürliche Zeugenaussagen, halbamtliche Dokumente, völlig beliebige Gerüchte und sonstige Spurenelemente seines „Wirkens“ – vielleicht ein, wenn nicht der Grund, warum alle bisher involvierten Verlage sich weigerten, dieses heiße Eisen konsequent anzupacken. Sudaus Feinde scheuen keine Mittel! Leihgeber wichtiger Exponate treten ohne Begründung von den Leihverträgen zurück. Wichtige Dokumente und ihre Besitzer verschwinden. Der „Sargdeckel“, seine Lieblingskneipe in Halle/Saale, wird von skrupellosen Grundstücksspekulanten abgerissen. Für ein würdiges Denkmal in Bad Salzungen ist „auf einmal“ kein Geld mehr da. Den Holger-Sudau-Lehrpfad im Saale-Unstrut-Gebiet lässt man mutwillig verwahrlosen. Vielen Lesern wird noch der ominöse Vertuschungsskandal der erzgebirgischen Waffenlobby (Sudaus Erbsenpistole!) in lebendiger Erinnerung sein. Nicht zu reden von den heillos untereinander zerstrittenen Sudau-Schulen, die das Ansehen dieses Mannes mit Schmutz beflecken. Stimmt’s?

Ziel einer hoffentlich künftig geeinten Sudau-Forschung sollte die Berücksichtigung der vielfältigen Anregungen sein, die unsere Gesellschaft Visionären wie Holger Sudau zu verdanken hat. Getreu seiner Devise „Sieg! Heim! Und fette Beute!“ In diesem Sinne! MICHAEL RUDOLF

Mehr lesen über Holger Sudau können Wahrheit- und andere Leser in dem soeben erschienen Buch „Morgenbillich“ von Michael Rudolf (Oktober Verlag, Münster 2003, 220 Seiten, 17 €).