Der Himmel gehört allen

Die „Sternenscheibe von Nebra“ gilt als älteste, von Menschenhand gefertigte Darstellung des Sternenhimmels. Der archäologische Sensationsfund aus Sachsen-Anhalt beschäftigt Forscher, Esoteriker, Gemeindeväter und die Medien

Doch wäre auch eine Herkunft aus anderen Regionendurchaus denkbar

von WOLFGANG LÖHLEIN

Von grauer Vorzeit bis zum Mittelalter dienen ur- und frühgeschichtliche Epochen Esoterikern jeder Couleur als Kulisse ihrer meist skurrilen Vorstellungen. Mit dem Fund eines goldverzierten Bronzediskus, der so genannten „Sternenscheibe von Nebra“ fühlt sich die Schar jener Zunft bestätigt, die sich Astro-Archäologen nennen. Sie glauben, die Menschen der Vorzeit seien regelrechte „Sternenmagier“ gewesen und hätten, wie der Spiegel im November in einer Titelgeschichte schrieb, deshalb einer lange verschollenen Hochkultur angehört. Mit den Erkenntnissen wissenschaftlich fundierter Altertumskunde haben diese Ansichten wenig gemein.

Die Fundgeschichte der Sternenscheibe beginnt im Dunkel der Halbwelt und gleicht einer wahren Räuberpistole. So hatte ein Hehler die Scheibe zusammen mit bronzenen Armspiralen, Beilen, einem Meißel und zwei Schwertern für 31.000 Mark von zwei Raubgräbern gekauft. Wohl wissend um die besondere wissenschaftliche Bedeutung seiner Ware bot er sie sodann über eine Mittelsfrau für 380.000 Euro dem Landesamt für Archäologie in Sachsen-Anhalt an.

Der dortige Landesarchäologe Harald Meller reiste im Februar 2002 nach Absprache mit der Polizei zur Übergabe nach Basel, ins Hilton-Hotel. Dort hängten zunächst zwar die Schieber die postierten Polizeibeamte ab. Doch gelang es Meller von der Toilette aus die irre geleiteten Zivilbeamte per Handy zur Übergabe ins Untergeschoss der Edelherberge zu rufen, wo schließlich der Zugriff erfolgte. Die beiden Raubgräber, die die Funde bereits 1999 brachial mit dem Zimmermannshammer aus der Erde geklopft hatten, gaben den Mittelberg im Ziegelrodaer Forst in der Gemeinde Nebra, Burgenlandkreis, als Fundort an. Gesichert ist diese Angabe jedoch nicht. Zwar soll nach Meller das Herstellungsverfahren der Scheibe für eine heimische Produktion sprechen, doch wäre auch eine Herkunft aus anderen Regionen, beispielsweise vom Balkan durchaus denkbar. So weisen die angeblich mitgefundenen Schwerter auf eine Herkunft aus Rumänien oder Ungarn hin.

Dass die illegalen Ausgräber einen heimischen Fundort nennen, ist nur zu verständlich, kämen für sie andernfalls noch weitere Anklagen aus dem Ursprungsland hinzu. Hierzulande gilt ihr Tun dagegen immer noch als eine Art Kavaliersdelikt. Was sie in Händen hielten, dürften die beiden Täter erst realisiert haben, nachdem der Sensationsfund in der Presse gefeiert wurde. Handelt es sich doch um die älteste Darstellung des Sternenhimmels in der Geschichte der Menschheit.

Über die Interpretation der mit dünner Goldfolie dargestellten Gestirne herrscht in Fachkreisen allerdings noch keine Einigkeit. So scheinen die chaotisch auf der Scheibe verteilten 32 Goldplättchen dem Erscheinungsbild des nächtlichen Himmels nachempfunden zu sein, doch keine bestimmten Sternbilder wiederzugeben.

Eine Ausnahme sollen sieben Goldplättchen bilden, die den Sternenhaufen der Plejaden zeigen. Allerdings, so gesteht Meller in einem Interview zu, könnten „es auch Delphin oder Praesepe sein“. Doch aufgrund antiker Texte, sind die Plejaden als geläufige Erscheinung des Altertums überliefert, weshalb die meisten Experten einer solche Interpretation zuneigen. Weit weniger Einigkeit besteht bei der Deutung der übrigen Himmelsobjekte: Mond, Sonne, Horizontbögen, Milchstraße oder Sonnenbarke?

Ab hier betritt man den schwankenden Boden der Spekulation. Das Verdienst, die kühnsten Schlussfolgerungen an den Fund von Nebra geknüpft zu haben, gebührt dem Journalisten Matthias Schulz mit seiner „Der Sternenkult der Ur-Germanen“ überschriebenen Titelstory im Spiegel. Bereits bei der Überschrift handelt es sich um ein hanebüchenes Konstrukt. Denn weder hat die Scheibe, die aus der Bronzezeit (ca. 2200 v. Chr. – 750 v. Chr.) stammt, zeitlich mit den von Poseidonius 80 v. Chr. erstmals so bezeichneten Germanen zu tun, noch kann ein inhaltlicher Zusammenhang konstruiert werden. Versuche, archäologische Quellen so auszudeuten, dass die Ursprünge der Germanen möglichst weit in vorgeschichtliche Perioden zurückverlegt werden können, gehen auf wissenschaftlich nicht haltbare Methoden nationalistischer und nationalsozialistischer Vorgeschichtsforscher zurück, die man eigentlich überwunden glaubte. Im nachfolgenden Artikel stellt Autor Schulz seinen Lesern eine kunterbunte Reihe von archäologischen Plätzen vor, die in keinem Esoterik-Reiseführer als besonders starke Kult- oder Kraftorte fehlen dürfen.

Die Externsteine etwa, eine im Lippe-Kreis gelegene bizarr anmutende, natürliche Felsformation, wird von einschlägigen Kreisen schon seit langem mit vorgeschichtlichen Kulthandlungen in Zusammenhang gebracht. Archäologisch durch entsprechende Funde nachgewiesen sind jedoch nur paläolithische und mesolithische Jäger und Sammler (ca. 35000 v. Chr. – 5000 v. Chr.) sowie mittelalterliche und neuzeitliche Funde. Bronzezeitliche oder germanische Hinterlassenschaften, wie im Spiegel suggeriert, die die Anwesenheit „germanischer Priester“ belegen könnten, die hier „eine Sternwarte betrieben, als wär’s das Hubble-Teleskop vom Drachentöter Siegfried“, sind bis heute nicht bekannt.

Als Basisliteratur scheint das Werk „Sterne und Steine“ von Wolfhard Schlosser und Jan Cierny gedient zu haben. Darin tut sich der Archäo-Astronom Schlosser unter anderem mit der Untersuchung eines Tempels in Persepolis hervor, auf dessen – nachträglich wiederaufgestellten! – Säulen zur Sommersonnenwende bedeutsame Schattenwürfe zu sehen sein sollen. Allein er übersah: Die Tempel waren in der Antike für gewöhnlich überdacht und Schattenspiele in der vorgestellten Weise deshalb nie möglich.

Schlosser ist heute einer der meist zitierten Experten, wenn es um die Interpretation der Nebraer Scheibe geht. Seinen Ausführungen folgt auch der Spiegel in seiner Vorzeitrallye, der die Leser zunächst zu den ersten sesshaften Bauern Mitteleuropas führt, die nach der charakteristischen Verzierung ihrer Tongefäße Bandkeramiker (ca. 5500 v. Chr. – 5000 v. Chr.) genannt werden. Sie sollen die Tore ihrer Dorfbefestigungen „häufig in Richtung der ersten Sonnenstrahlen am Tag der Wintersonnenwende“ ausgerichtet haben – allerdings nur dann, wenn es sich um Eingänge im Südosten solcher Anlagen handelte.

Von hier geht es quer durch die Steinzeit weiter zu den Errichtern der Megalithbauten (ca. 4800 v. Chr. – 2300 v. Chr.). Auch an diesen steinernen Großbauwerken konnten Forscher „Schattenspiele und Peillinien zuhauf“ feststellen. Steinreihen wie im bretonischen Carnac sind nach Schulz häufig nach Westen ausgerichtet. Dorthin, „wo die Sonne im Meer versinkt“. Danach, wenn es vollends dunkel war, konnte sich der Steinzeitmensch zum Grand Menhir von Locmariaquer begeben, der als „ ‚Visurkorn‘ zur Sternenpeilung diente“.

Schließlich darf in der Reihe mystisch verklärter Orte auch Stonhenge nicht fehlen. Ihre Erbauer sollen die Mondextreme“ angepeilt haben, was Stonehenge mit „einigen irischen Steinkreisen“ und – natürlich – den Externsteinen, dem „Magnet für kultige Runenfans“, verbinden soll, wo „Spuren“ angeblich dieselbe Peilrichtung belegen.

Inhaltlich eine völlig andere Peilrichtung verfolgten die Archäologen Derk Wirtz und Jürgen Obmann in einer bereits 1994 erschienenen Arbeit. Darin untersuchten sie solch okkulte Deutungen archäologischer Fundplätze und konfrontierten diese mit dem Stand wissenschaftlicher Erkenntnis. Ihr Fazit trifft auch auf die Spiegel-Story zu. So werde archäologische Literatur zwar benutzt, fachlich fundierte Interpretationen jedoch rundherum abgelehnt. Selbst die „zeitliche Ordnung der angeführten Denkmäler“ spiele „offenbar überhaupt keine Rolle“, da lediglich „zwischen der Gegenwart und einer ungegliederten Vergangenheit“ unterschieden würde, die „völlig verklärt und verzerrt wiedergegeben wird“. Wesentliches Kennzeichen solcher Herangehensweise sei, dass Fakten aus unterschiedlichen inhaltlichen Zusammenhängen zusammengetragen und wahllos aneinander gefügt werden.

Meller, der inzwischen von überall her Zuschriften mit Interpretationen zum „Bingo-Fund“ aus Nebra erhalten hat, macht das aus Spezialistensicht einzig Richtige. Er lässt am vermeintlichen Fundort ausgraben. Natürlich fanden sich bislang noch keine Belege, die auf ein bronzezeitliches Observatorium hinweisen. Auch, ob ein moderner Grabungstrichter wirklich den Raubschacht der Finder markiert, bleibt unsicher. Erst durch mühseliges Sammeln von Fakten wird künftig geklärt werden können, welche archäologische Fundlandschaft am Mittelberg vorliegt und wie der Ausnahmefund damit in Verbindung gebracht werden kann.

Die Scheibe wird derzeit in Restaurierungswerkstätten und naturwissenschaftlichen Labors untersucht. So konnte zunächst zweifelsfrei geklärt werden, dass es sich bei dem Stück nicht um eine moderne Fälschung handelt. Des Weiteren rekonstruierten Restauratoren detailliert das Herstellungsverfahren des Bronzediskus und die Anbringung der Goldauflagen, aber auch die Zerstörungen durch die Raubgräber und Hehler.

Jüngst meldete die Nachrichtenagentur dpa, dass Archäo-Chemiker aus Halle das ursprüngliche Aussehen der Bronze ermittelt haben. Demnach kontrastierte ihre durch Ausglühen ursprünglich braun gefärbte Oberfläche vorzüglich mit den goldenen Applikationen.

Es wird noch geraume Zeit in Anspruch nehmen, bis alle Rätsel um diesen außergewöhnlichen Fund gelüftet sind, und es darf noch mit mancher Überraschung gerechnet werden.

Kein Wunder, dass sich angesichts solcher Publicity-Wirkung die an den mutmaßlichen Fundort angrenzenden Gemeinden darum streiten, wie die Sternen- oder Himmelsscheibe genannt werden soll. Nachdem sich Landesarchäologe Meller offiziell für die Bezeichnung „Himmelsscheibe von Nebra“ entschieden hat, lassen die Bürgermeister von Ziegelroda und Wangen rechtliche Schritte dagegen prüfen. Richtig so, denn der Himmel gehört schließlich allen!

Der Autor Wolfgang Löhlein, 41, ist Prähistoriker und lebt in Köln