Beide Kirchen fordern behutsame Reformen

Erste Predigten 2004 warnen Politik: Umverteilung nach oben darf nicht sein. Zwei Lesarten von Bischof Hubers Wort

BERLIN taz ■ Ist der Mann, der gestern zu Neujahr im Berliner Dom predigte, ein neoliberaler Wolf? Einer, der sich nur unter einem Schafspelz barmherziger Worte versteckt? Oder zählt er zu denen, die beim Umbau des Sozialstaats eindeutig auf Seiten der Schwachen stehen?

Egal ist das nicht. Denn der Prediger, Wolfgang Huber, ist seit wenigen Tagen Chef der Evangelischen Kirche Deutschlands. Was er über die soziale Reformagenda der rot-grünen Regierung sagt, prägt deren Ansehen, es hat Gewicht. Aber wie das Gewicht einschätzen? Nach seinem Manuskript forderte der Bischof dazu auf, soziale Härten zu vermeiden und „den kleiner werdenden Kuchen fair zu verteilen“. Huber sagte zu den Veränderungen bei den Sozialversicherungen: „Da kann es zu unvertretbaren sozialen Gegensätzen kommen – wenn wir nicht bewusst gegensteuern.“ Heißt auf Deutsch: Passt bei den Rentnern auf! Macht Arbeitslose nicht zu Sozialhilfeempfängern! Das ist die eine Lesart der Huber-Worte.

Die andere Lesart geht so: Bischof Huber habe gesagt, es komme darauf an, „schärfere soziale Gegensätze in unserem Land“ auszuhalten. So berichtet es die Evangelische Presse-Agentur (epd), und dann wäre Huber ein ganz anderer. Einer, der größere soziale Ungleichheit zwischen den Bürgern als tolerabel empfände – ein typisches Argument der neoliberalen Wirtschaftslehre. Dass Huber so kann, hat er bewiesen, als er bei seiner berlin-brandenburgischen Kirche schon Mitte der 90er eine beinharte Sanierung begann – mit Stellenabbau, Kündigungen und sozialen Härten.

Was brachte die Kanzel am Neujahrstag sonst? Wie deftig es Katholiken können. Kardinal Lehmann meinte, damit Reform nicht zu Umverteilung von unten nach oben führe, müsse man „höllisch“ Acht geben. Sagte der Oberbischof. In der Kirche. Heiliger Bimbam. CHRISTIAN FÜLLER