Mr. Maastricht in der Klemme

Union punktet gegen Finanzminister: Eichel begründet Stabilitätsbeteuerungen vor der Wahl mit einer hoffnungsfrohen Fehleinschätzung

von HANNES KOCH

Sein Pausenbrot konnte Bundesfinanzminister Hans Eichel gestern noch in Ruhe verzehren. Während der ersten zwei Stunden war die Sitzung des Untersuchungsausschusses „Wahlbetrug“ so träge dahingeflossen wie die Spree unter der Fensterfront. Mit einschläfernder Stimme hatte Ausschussvorsitzender Uwe Benneter, ebenso SPD-Politiker wie der Finanzminister, pflichtgemäße Fragen gestellt, die Eichel Gegelegenheit zu längeren Statements über Wachstum und Steueraufkommen gaben.

Doch dann wird es munter. Schlag zwölf übernimmt Peter Altmaier (CDU) das Regiment. Er ist der Konstrukteur der Anklage, die Eichel im Auftrag der Unionsspitze um Edmund Stoiber und Angela Merkel als Lügenbold und Volksverdummer entlarven soll. Der Vorwurf: Entgegen seinen öffentlichen Beteuerungen habe Eichel bereits im Juli 2002 gewusst, dass Deutschland den Maastricht-Vertrag verletzen, also mehr als 3 Prozent Schulden im Verhältnis zum Bruttoinlandprodukt (BIP) machen würde. Dieses, so argumentiert die Union, habe der Finanzminister verschwiegen und damit die Bundestagswahl am 22. September 2002 zu seinen Gunsten verfälscht.

Altmaier will mit der persönlichen Befragung von Eichel im Abgeordnetenhaus am Reichtstag nun nachweisen, dass diesem schon im vergangenen Sommer die ganze Dramatik der Haushaltslage bekannt gewesen sei.

Altmaier zu Eichel: „Der 17. Juli 2002 war die Mutter aller Katastrophen. An diesem Tag schrieb Ihr Referatsleiter Dieter Schoof, dass er mit 10 Milliarden Euro weniger Einnahmen rechne. Ist Ihnen dieser Vermerk bekannt, Herr Minister?“

Eichel: „Ja.“

Altmaier: „Ist Ihnen auch bekannt, dass ebenfalls am 17. Juli 2002 ein anderer Referatsleiter ein Haushaltsdefizit von insgesamt 3,4 Prozent errechnete?“

Eichel: „Ja.“

Mit diesen kärglichen Antworten des Ministers hat die Union im Prinzip erfahren, was sie wollte. Und sie hat einen Sieg nach Punkten gegen den Finanzminister erkämpft. Nach den Ausschusssitzungen der vergangenen Wochen ist die Lage so weit klar: Die politische Spitze des Ministeriums wusste, dass das Maastricht-Kriterium in höchster Gefahr war, hielt aber bis Oktober 2002 dicht. Da war die Bundestagswahl ja schließlich vorüber.

Aber Eichel stünde nicht ganz oben in der politischen Hierarchie, wenn sich seine Verteidigungsstrategie in einem lahmen Eingeständnis erschöpfte. Nicht ohne Berechtigung argumentiert er so: Natürlich seien die schlechten Zahlen im Finanzministerium bekannt gewesen, aber die politische Spitze des Hauses habe eine andere Einschätzung vertreten, als die Referatsleiter. Eichel: „Der Minister bildet die Meinung des Hauses.“ Der Kern dieser Ermessensentscheidung bestand darin, nicht auszuschließen, dass die Konjunktur im Herbst wieder anziehen und die Steuereinnahmen im September 2002 entgegen dem Negativtrend ansteigen würden. Dann wäre alles in Butter und Maastricht gerettet gewesen. Dass diese Hoffnung enttäuscht wurde, habe man erst im Oktober schwarz auf weiß gesehen und sei dann auch sofort an die Öffentlichkeit gegangen, erklärt der Finanzminister.

Indem Eichel die Debatte von den Fakten weg auf das weite Feld der Einschätzungen und Interpretationen zieht, verhindert er, dass Ankläger Altmaier als klarer Sieger dasteht. Doch könnte das Publikum gerade bei dieser Abwehrtaktik merken, wie angeschlagen der Minister ist. Es macht nicht den besten Eindruck, wenn ein fachlich vorgebildeter Minister zwar die Zahlen seiner Untergebenen kennt, sie auch nicht anzweifelt, ihre Einschätzung aber locker abmeiert – gerade dann, wenn ihnen die Entwicklung im nachhinein Recht gibt, und nicht dem Minister. Eichels Glaubwürdigkeit ist nach diesem Untersuchungsausschuss zumindest beschädigt. So gesehen, war die gestrige Verhandlung der vorläufige Tiefpunkt innerhalb eines langsamen Abstiegs, der vor etwa einem halben Jahr begonnen hat. Damals soll Bundeskanzler Schröder seinen Finanzminister während der Koalitionsverhandlungen mit den Grünen gerüffelt haben, weil er dem Chef mit seiner ewigen Sparwut auf die Nerven ging.

Jahrelang war Hans Eichel einer der Aktivposten der Regierung Schröder. Mr. Maastricht hat der Sozialdemokratie das Sparen beigebracht, und auf diese Art eine politisch-moralischen Mehrwert gegenüber der Kohl-Regierung verkörpert, die den größten Schuldenberg in der deutschen Geschichte aufgehäuft hatte. Doch mittlerweile leidet das Image des Sparkommissars, dessen oberstes Ziel die „Konsolidierung des Haushalts“ ist. In jüngster Zeit entsteht ein Widerspruch zwischen Eichels Dogma und der Wirklichkeit. Die ökonomische Realität beginnt sich seiner Theorie zunehmend zu widersetzen. Während Eichel Maastricht in seiner ursprünglichen Form hochhält, wird der Stabilitätspakt zwar nicht über den Haufen geworfen, aber doch gelockert. Nicht nur die französische Regierung sieht keinen Sinn mehr darin, noch in einer Stagnationsphase die Wirtschaft durch eine zu enge Sparpolitik zu strangulieren.

Eichel betrachtet sich als Zuchtmeister der Politik, die in seinen Augen zur Verschwendung neigt. Damit die Regierung bloß nicht dem alten Übel des bedenkenlosen Geldausgebens erneut verfalle, beschwört er immer wieder die Absicht, im Jahre 2006 einen ausgeglichenen Bundeshaushalt vorzulegen. Weil aber dieses Ziel trotz aller Reden nicht gerade realistischer wird, trägt auch das Festhalten daran nicht dazu bei, das politische Gewicht Eichels zu stärken.

Trotzdem ist die Karriere des Bundesfinanzministers nicht zu Ende. Mag sein, dass der Widerspruch zwischen Eichels Zielen und Erfordernissen der aktuellen Politik irgendwann zu groß wird. Doch noch braucht ihn der Kanzler.