jugend liest
: Erzählte Geschichte

Neulich waren wir in Berlin. Von der Reichstagskuppel aus schauten wir den Autos zu, wie sie durchs Brandenburger Tor fuhren, als hätten sie das immer so gemacht. Plötzlich dachte ich, dass man das den Kindern doch erzählen müsste: Wie dunkel und endlos lang der Mauerstreifen einst war und was für einen Aufwand man betreiben musste, um als Westler einmal im Jahr auf dem Alex billig Klassikplatten zu kaufen. Den Bahnhof Friedrichstraße hatten sie ja in die eine Richtung einfach zugemauert –„stell dir das mal vor!“ Die Transitstrecke erst: bloß nicht anhalten, bloß nirgends abbiegen. Aber erzählen Sie das mal einer Dreizehnjährigen. Die schaut einen an, als stünde Methusalem höchstpersönlich vor ihnen: Was, du hast die DDR noch erlebt? So ähnlich muss es früher meinem Opa ergangen sein, wenn er mal wieder vom Krieg anfing. Dem habe ich als Kind auch nie zugehört. Obwohl Geschichte mein Lieblingsfach war. Nur haben mich Opas Geschichten erst interessiert, als er schon tot und ich erwachsen war.

Mit den Erinnerungen in den Büchern ist das offenbar anders. Sogar ein so schwieriger DDR-Roman wie Klaus Kordons „Krokodil im Nacken“ hat Erfolg, wenn der Autor genug Distanz zu seinen jungen Lesern hält. Eine Grundbedingung, die auch Kirsten Boie, 1950 in Hamburg geboren, erfüllt. In „Monis Jahr“ erzählt sie, wie es in den Fünfzigern war, als das Gymnasium noch Oberschule hieß und die ersten Fernseher in den Schaufenstern standen, als mit dem ersten Wohlstand auch die letzten Kriegsheimkehrer kamen. Alleinerziehende gab es damals wohl noch mehr als heute, und manchmal waren plötzlich zwei Väter auf einmal da: der alte, seit zehn Jahren vermisste, und Mutters neue Liebe. Arztkinder und Putzfrauenkinder spielten damals noch seltener zusammen als heute, und an den Hosen wurde unten ein Streifen angenäht, wenn sie den Kindern zu klein wurden. Da hatten sie ihr Verfallsdatum nach heutigem Maßstab bereits lange überschritten. Boie erzählt das alles, weil es eben so gewesen ist. Sie kokettiert nicht mit ihren Erinnerungen und heischt nicht nach Verständnis. Ihr Roman ist wie ein Fenster, das der Leser öffnen, aber auch jeder Zeit wieder schließen kann.

Der zweite Jugendroman, der sich in diesem Winter mit der deutschen Vergangenheit befasst, stammt von Mirjam Pressler. Johanna ist bereits 18, als eine Israel-Reise mit der Schulklasse sie mit unangenehmen Fragen konfrontiert: Das Modehaus Riemenschneider, ein Familienunternehmen, gehörte einst Juden. Der Großvater hatte es von ihnen legal gekauft. Aber was heißt legal? Schließlich war der Großvater Parteimitglied von Anfang an – sonst hätte er dieses günstige Angebot nie erhalten. Und günstig war das Geschäft nur deshalb, weil die Nazis es bereits ruiniert hatten.

Man kann nicht sagen, dass Mirjam Pressler die Schuldfrage mit dem Holzhammer stellt. Sie schildert die Personen sehr facettenreich. Trotzdem kommt manchmal ein etwas unglaubwürdiger Ton hinein. Etwa wenn Johanna am Anfang sagt: „Ich muss einen Schlussstrich ziehen“, oder wenn sie mit ihrer Lehrerin spricht. Man fühlt dann, wie unheimlich es Pressler gewesen sein muss, den Schwebezustand, in dem sie ihr Buch am Ende dann doch noch lässt, zu halten. ANGELIKA OHLAND

Kirsten Boie: „Monis Jahr“. Oetinger Verlag, Hamburg 2003, 255 Seiten, 12 EuroMirjam Pressler: „Die Zeit der schlafenden Hunde“, Beltz & Gelberg, Weinheim 2003, 272 Seiten, 14,90 Euro