Schlachtfest auf Lukanisch

Die Basilicata im Süden Italiens ist wild, hart und manchmal atemberaubend schön. Ohne Schwein führt man hier das Leben eines armen Schweins, lautet ein Sprichwort. Es liefert Fleisch, Speck, Schmalz, Schinken, Würste, Leder und sogar die Seife

von ANDREA SNIPPE

Das Schwein wurde vor Sonnenaufgang getötet. Jetzt liegt es im grellen Mittagslicht eines klirrend kalten Wintertages auf einem blank gescheuerten Holztisch, ausgeblutet und bleich, seiner Innereien und Därme schon beraubt. In einem Kessel stockt das aufgefangene Blut, um später zu Blutwurst verarbeitet zu werden.

Im Magazzino, im offenen Lagerschuppen von Zio Domenico, zerlegen zwei Männer gleichzeitig das Schlachttier: flink und geschickt, mit Messern, so scharf, dass sie das rohe Fleisch wie Butter zerteilen. In den Pausen trinken die beiden Brüder, Leonardo und Rocco, den Rotwein, den Zio Domenico ausschenkt. Das hilft gegen die beißende Kälte, weil die Hände beweglich bleiben.

Ein Jahr lang durfte das Schwein, das Rocco gehört, sich unter der Obhut von Zio Domenico satt fressen an Maismehl, Eicheln und Bucheckern. Von dem Bergsattel, auf dem Zio Domenicos Hof liegt, bis dicht an den Fuß des Falconara, dessen Gipfelzacken bis zur Mitte des Jahres mit Schnee bedeckt bleibt, stehen die Eichen und Buchen, Teil eines einstmals ganz Lukanien bewachsenen Mischwaldes. Das Holz dieser uralten Baumstämme wird heute Abend ein großes Feuer nähren – Zio Domenico lädt zum Schlachtschmaus ein.

Lukanien ist der antike Name für die süditalienische Region Basilicata, die nur 3,3 Prozent des italienischen Staatsgebiets umfasst. Die Basilicata ist das wüste Bergland zwischen Absatz und Spitze des italienischen Stiefels, das kaum jemand kennt. Die wichtigen Bahnlinien führen an den Küsten entlang an ihr vorbei, die Autobahn nach Reggio di Calabria und Sizilien lässt die Basilicata links liegen. Sie ist noch fast genauso unwegsam wie zu den Zeiten, als politisch unliebsame Gegner an dieses Ende der Welt verbannt wurden. Der Schriftsteller und Maler Carlo Levi, der als verbannter Antifaschist zwei Jahre in lukanischen Dörfern lebte, malte und als Arzt unter den Bauern arbeitete, schrieb 1935: „Niemand hat diese Erde berührt, es sei denn als Eroberer oder als Feind oder als verständnisloser Besucher. Die Jahreszeiten gleiten über die Mühsal der Bauern dahin, heute wie dreitausend Jahre vor Christi Geburt.“

Zu den Zeiten der Römer war die Basilicata noch ein Land der Wölfe, ein dichter Mischwald aus Eichen, Buchen und Tannen. Der Urwald fiel nach und nach den Abholzungen der verschiedenen Eroberer zum Opfer, angefangen mit den Römern, die das Holz für ihre imperialen Schiffsflotten brauchten, bis zur faschistischen Regierung, die roden ließ, um ein Maximum an kultiviertem Land für den Getreideanbau zu nutzen. Die Entwaldungen hatten ein ökologisches Desaster zur Folge. Die heftigen Herbst- und Winterstürme, von ungeheuren Wassermassen begleitet, treffen auf den ungeschützten Boden, schwemmen ihn weg, schwellen die Flüsse an zu reißenden Fluten, die ganze Dörfer unterspülen. In den Sommern sind die breiten Flussbette trocken, ein Rinnsal fließt durch eine steinige Mondlandschaft wie in einem bösen Fiebertraum.

Die Dörfer wurden immer auf den Hügeln erbaut, nicht nur um sich vor Angreifern sicherer zu fühlen. In den Flusstälern wütete bis in die 50er-Jahre die Malaria. Die Basilicata ist die Region Italiens, die am häufigsten von gefährlichen Erdbeben heimgesucht wird. Das Land ist wild, hart und manchmal atemberaubend schön. Vom Dolce Dorme, der höchsten Erhebung des Pollino-Massivs, das die Grenze zur südlicheren Provinz Kalabrien abriegelt, kann ein Wanderer an klaren Tagen zwei Meere schimmern sehen: im Westen das Tyrrhenische Meer mit dem Golf von Policastro , im Osten das Ionische Meer mit dem Golf von Tarent zwischen Apulien und Kalabrien.

Auf dem traditionellen Pfad, der über das Pollino-Gebirge nach Kalabrien führt, gelangt ein Reisender auch zu der kleinen Masseria von Zio Domenico. Heute klingen schon von weitem Rufe und Gelächter durch die klare Winterluft, die ersten Gäste treffen ein. Zia Carmela, seine Frau, zierlich und weißhaarig, trocknet sich zufrieden die rauen, von der Kälte geröteten Hände an ihrer blauen Schürze ab. „Senza puorche se face vita na puorche“, sagt sie im singenden Tonfall des lukanischen Dialekts. Ohne Schwein führe man das Leben eines armen Schweins. Die Frauen und Nachbarinnen, die seit der Morgendämmerung beim Zubereiten des Festmahls geholfen haben, nicken zustimmend. Fleisch, Speck, Schmalz, Schinken, Würste, Leder und zum Schluss sogar noch die Seife, das Schwein liefert den jährlichen unentbehrlichen Grundstock für die Versorgung der Familie in den Dörfern der Basilicata.

Um den Tisch vor dem prasselnden offenen Herdfeuer, in dem rußgeschwärzten, einzigen Wohnraum des Hofes, sitzen schon erwartungsvoll die Gäste. Primo piatto, erster Gang: il cavolo, der Kohl hat seinen fulminanten Auftritt. Er kommt als pfeffrige Suppe mit frisch gebratenem Schweinefleisch, so pfeffrig, dass die Augen tränen, die Ohren sausen und auch der letzte Kälteschauder das Weite sucht. Die erwärmten, ja erhitzten Gäste prosten sich glücklich zu. Der zweite Gang muss, so will es der Brauch, aus zwei verschiedenen Fleischsorten bestehen. Also gibt es Schweinefleisch, wen wundert’s, und Kaninchen, dazu Berge von Pasta in würzigem Tomatensugo.

Jacken werden abgelegt, die Augen glänzen und die Wangen röten sich. Tusch und terzo piatto: Fleischklößchen mit Gurken-Tomaten-Salat. Zio Domenico füllt die Gläser wieder auf. Denn nun kommt als vierter Gang die pikante Blutwurst, heute frisch gemacht. Noch ein paar Tropfen Wein, und als fünfter Gang erscheint gebratene Schweineleber, traditionell immer zusammen mit grünem Salat. Jetzt noch Mandarinen, Kaffee und ein paar Schlückchen von Zio Domenicos selbst angebautem Rotwein.

Nach dem Essen rücken alle näher an das wärmende Feuer. Eine frühe Volkszählung, um 1500 in der Basilicata durchgeführt, hatte damals die Anzahl der Bevölkerung anhand der Feuerstellen kalkuliert. Leonardo sitzt rittlings auf dem Stuhl, umarmt dessen Lehne und nickt immer wieder ein. Das passiert ihm jeden Abend. Im Winter muss er oft stundenlang laufen, um für seine Schaf- und Ziegenherde Futter zu finden. Bei diesem Wetter sind der Ginster, die bevorzugte Winterkost der Ziegen und Schafe, und auch alle anderen Sträucher von einer dünnen Eisschicht überzogen, und seine Tiere verlieren an Gewicht.

Heute ist er noch früher als sonst aufgestanden, um das Schwein seines Bruders Rocco zu töten. Leonardo versteht sich auf die Kunst des Schlachtens. Trotzdem nimmt er kein Geld dafür. Ein Schwein zu schlachten ist eine Ehrensache, ein Dienst an der Dorfgemeinschaft. Im Halbschlaf hört er noch, wie Zio Domenico und Zia Carmela die Gäste verabschieden. Es ist eine sternklare Nacht, und der Atem steht in kleinen Wölkchen vor dem Mund. Lachend wehrt Zio Domenico die Dankesbezeugungen für die großzügige Gastfreundschaft ab. „Der Geizige ist wie das Schwein: gut, wenn er tot ist!“