Ohne Schleier

Frankreich grenzt Muslime ökonomisch und sozial aus. Anstatt Regeln über Kopftücher aufzustellen, sollte Chirac sich mit der Hoffnungslosigkeit in den Vorstädten befassen

Das Problem der Muslime in Frankreich ist weder spezifisch französisch noch vornehmlich religiös

Frankreich hat ein schweres Geschütz aufgefahren: In einer denkwürdigen Rede über Säkularisierung plädierte der französische Präsident Jacques Chirac für ein Verbot auffälliger religiöser Symbole in Schulen. Er lenkte damit die Aufmerksamkeit auf die fünf Millionen Muslime, die in Frankreich leben – und die damit die größte islamische Gemeinschaft Europas bilden. Hinter dem angeblichen Diskurs über republikanische Werte, den der Präsident führte, steht eine wehrhafte Republik, die ihr Konzept der exception culturelle – also die eigene kulturelle Vorrangstellung – nach außen verteidigt, während sie ihr nach innen im Zweifelsfall aggressiv Geltung verschafft.

Die derzeitige Aufregung über religiösen Einfluss wurde nicht durch die jüdische Kippa oder große Kruzifixe ausgelöst, sondern durch einige tausend muslimische Teenager, die Kopftücher an öffentlichen Schulen tragen. Frankreich, ein modebewusstes Land mit mehr Namen und Tragweisen für Seidentücher als andere, möchte das Tragen des Tuches im Klassenzimmer aufgrund seiner religiösen Bedeutung verbieten.

Verschiedene Gruppierungen baten um eine differenzierte Betrachtung. Religiöse Zirkel befürchten, dass solch ein Verbot die Gesellschaft entzweit, moderate Muslime sehen es als repressive Maßnahme gegen eine kulturelle Ausdrucksform, liberale Gruppen empfinden es als eine aufdringliche Einmischung in die individuelle Wahlfreiheit und Ausdrucksmöglichkeit von Frauen.

Es sei, wie es sei, der Vorstoß der französischen Regierung soll das zurückdrängen, was für eine bedrohliche Einflussnahme islamischer Fundamentalisten gehalten wird. Er soll zudem deren Bestreben abwehren, das säkulare System des Landes durch den provokativen Einsatz religiöser Symbole in den heiligen Hallen der staatlichen Schulen zu unterminieren. Es signalisiert null Toleranz gegenüber solchen demokratiefeindlichen Kräften, die von dem demokratischen System des Landes profitieren möchten.

Wie üblich, wenn es sich um ein großes Problem handelt, wird Frankreich das derzeitige Dilemma mit einem neuen Gesetz lösen wollen, wird eine spezielle Bürokratie schaffen, die es umsetzt, und die Polizei ermächtigen, es durchzusetzen. Solch ein Vorgehen könnte nach hinten losgehen, weil es, in den Worten von Le Monde, den säkulären Staat als kalt, unnahbar und defensiv erscheinen lassen wird und einen großen Teil der Bevölkerung ausschließt, den der Staat eigentlich integrieren müsste. Letztendlich wird es nur die extremistischen Tendenzen populär machen, die die Regierung eigentlich eindämmen möchte.

Leider ist es so, dass dieselben Mädchen, die von Männern genötigt werden, in der Öffentlichkeit ein Kopftuch zu tragen, nun von anderen Männer gezwungen werden, es in öffentlichen Schulen abzulegen. Ein Hoch auf Freiheit, Brüderlichkeit und Gleichheit … und den Laizismus!

Diese vier Säulen, die großen, wertvollen Grundlagen der französischen Demokratie werden von der Bevölkerung am besten erhalten und geehrt, wenn sie von einer guten Regierung vertreten werden – und nicht, wenn sie dazu genötigt werden, sie anzuerkennen. Aus diesem Grund muss Frankreich, wie Präsident Chirac vernünftigerweise ankündigte, dringend seine soziale und ökonomische Diskriminierung gegen Millionen französische Muslime aufgeben und einen wirklich effektiven Weg ihrer Integration in einen Staat aller Bürger finden.

Frankreich muss sich mit der Kultur der Hoffnungslosigkeit befassen, die seine Städte infiziert – mit der Mentalität der berüchtigten Vorstädte, die aus dem Verfall der sozialen Beziehungen und der Armutszone erwachsen ist, die sich um viele Städte legen. Traurigerweise hat der hoffnungsvolle Innenminister Nicolas Sarkozy anstelle von besserer nur mehr Polizei aufgefahren, um die Probleme der Vorstädte zu lösen. Das Ergebnis sind etwas weniger Kriminalität, aber viel mehr Spannung und Feindschaft in den Trabantenstädten gegenüber dem dominanten Zentrum.

Dies fordert seinen besonderen Tribut von den französischen Musliminnen. Beispielsweise gibt es in den Vorstädten eine wachsende Zahl von Attacken und Raubüberfällen von jungen muslimischen Männern gegen unverschleierte Mädchen, die nicht als Teil der „Gemeinschaft“ angesehen werden und daher als legitimes Angriffsziel betrachtet werden. Sie werden also verurteilt, wenn sie Schleier tragen, und sie werden verurteilt, wenn sie ihn nicht tragen.

Die Abwehrreaktion der französischen Muslime auf ihre gesellschaftliche Ausgrenzung führt zu einer neuen Identitätspolitik, die ihren Ausdruck unter anderem darin findet, das Kopftuch zu tragen. Wenn Bürger von ihrem Staat ausgegrenzt werden, suchen sie nach anderen Möglichkeiten der Identitätsfindung – religiösen, ethnischen, gemeinschaftlichen – die im Gegensatz zum Staat stehen.

Das Problem der Muslime in Frankreich ist nicht notwendigerweise französisch und auch nicht vornehmlich religiös. Es ist ein westliches Phänomen, das aus der modernen postkolonialen europäischen Kultur herrührt und das äußerste kulturelle Sensibilität gegenüber den schon gedemütigten Menschen erfordert.

Der Vorstoß Chiracs wird auch den Umgang der Nachbarländer mit ihren Millionen von muslimischen Einwohnern und andersgläubigen Migranten beeinflussen. Deutschland, mit der zweitgrößten muslimischen Gemeinschaft, beobachtet das Vorgehen Frankreichs genau. Aus diesem Grund muss Frankreich darüber hinausgehen, staatliche Zwangsmittel nur sorgfältig genug gegen die Identitätspolitik der Muslime einzusetzen. Als einflussreicher Vordenker der EU muss Frankreich hart daran arbeiten, die Ausgrenzung und Diskriminierung gegen Muslime auf dem Kontinent wirklich zu beenden, denn sie wird die Gesellschaft spalten.

Es werden die extremistischen Tendenzen populär, die die Regierung eindämmen möchte

Es ist daran zu erinnern, dass Frankreich das erste europäische Land war, dass der Diskriminierung der Juden ein Ende bereitete und ihnen 1791 völlige Gleichheit sicherte, bevor der moderne Antisemitismus in Europa geboren wurde. Nach Vortragsreisen in zwei Dutzend französische Städte während der letzten beiden Jahre habe ich die Verbitterung und das Gefühl des Ausgegrenztseins bei vielen Muslimen gespürt. Aber ich kann auch bezeugen, wie überlegt, verantwortlich und engagiert die französische Zivilgesellschaft mit den sozialen und ökonomischen Ungleichheiten umgeht, die der Verbitterung der Muslime zu Grunde liegen.

Die französische Regierung sollte ihre Anstrengungen besser dahingehend verstärken, Elternorganisationen und Lehrer zu stärken, die sich mit der Identitätsbildung einer Minderheit ihrer Schüler und deren Familien befassen, als Handbücher zu verteilen und durchzusetzen, wie mit auffälligen religiösen Symbolen umgegangen werden soll.

MARWAN BISHARA

Aus dem Englischen von Heike Holdinghausen