Die Gnade der ganz späten Geburt

Zum ersten Mal darf dieses Jahr mit Gerhard Schröder ein Bundeskanzler zu den Feiern in der Normandie zum Jahrestag der alliierten Landung von 1944. Helmut Kohl war noch abgeblitzt. Heute sind die deutsch-französischen Beziehungen perfekt

AUS PARIS DOROTHEA HAHN

Am 6. Juni dieses Jahres wird erstmals auch ein deutscher Regierungschef dabei sein, wenn SpitzenpolitikerInnen aus aller Welt gemeinsam am Strand der Normandie an die Landung der Truppen der westlichen Alliierten vor 60 Jahren erinnern. Die Einladung an Gerhard Schröder sprach der französische Staatspräsident Jacques Chirac bereits vor Weihnachten aus. Am Abend des 1. Januar wurde sie publik.

Der „Jour-J“, wie ihn die Franzosen nennen, oder „D-Day“, wie er bei den US-Amerikanern, Briten und anderen angelsächsischen Alliierten sowie in Deutschland heißt, war eines der letzten Hindernisse auf dem Weg zur völligen Normalisierung der deutsch-französischen Beziehung. Vor zehn Jahren hatte Bundeskanzler Kohl noch vergeblich auf eine Einladung zu dem Treffen zum damals 50. Jahrestag der alliierten Landung gehofft. Der Christdemokrat musste zu Hause bleiben. Statt in die Normandie lud Präsident François Mitterrand die Deutschen ein paar Wochen später auf die Champs-Élysées ein. Dort fuhren am 14. Juli 1994 deutsche Panzer in der Militärparade zum französischen Nationalfeiertag mit.

Dem Normalisierungsschritt vorausgegangen sind zahlreiche andere symbolische Ereignisse. Das erste liegt 41 Jahre zurück. Es war die Unterschrift von de Gaulle und Adenauer unter einen damals auf beiden Seiten des Rheins heftig umstrittenen deutsch-französischen Freundschaftsvertrag. Das Papier setzte einen Schlussstrich unter drei deutsch-französische Kriege und unter das Kapitel der „Erzfeindschaft“.

Auf die beiden Konservativen de Gaulle und Adenauer, die den Gründungsvertrag schlossen, folgten in späteren Jahrzehnten in Paris und Bonn politisch fast immer unterschiedlich besetzte Paare. Doch die deutsch-französische Beziehung prägte die Geschichte der EU und arbeitete sich zugleich Schritt für Schritt an der brutalen bilateralen Geschichte ab. Kohl und Mitterrand drückten sich 1984 über den Gräbern von Verdun herzlich die Hände. Chirac und Schröder opponierten letztes Jahr gemeinsam gegen den US-amerikanischen und britischen Irakkrieg.

In Paris und Berlin kommentierten gestern Regierungssprecher die gemeinsamen Feierlichkeiten im kommenden Juni in der Normandie als „bedeutenden Schritt.“ Ein deutscher Regierungssprecher wertete die Einladung als Zeichen, dass sich die Zeiten „tatsächlich geändert“ hätten.

Am 6. Juni werden in dem normannischen Küstenort Arromanches unter anderem auch die britische Queen Elizabeth II. und der polnische Präsident Aleksander Kwaśniewski anwesend sein. In den Folgetagen sollen einige tausend Jugendliche in der Region des Krieges gedenken. Das Friedensmuseum in der Stadt Caen wird Ausstellungen mit Erinnerungsstücken von Kriegsteilnehmern aller Seiten zeigen.

Nach diesem Juni werden nur noch wenige symbolische Daten übrig bleiben, an die sich Deutschland und Frankreich heranwagen müssen. Zum 11. November, dem Jahrestag des Endes des Ersten Weltkrieges 1918, wollen die beiden Länder in diesem Jahr erstmals gemeinsame Erinnerungsveranstaltungen abhalten. Und der 8. Mai, Jahrestag der deutschen Kapitulation im Jahr 1945, der in Frankreich ebenfalls ein gesetzlicher Feiertag ist. Er kommt immer immer wieder in die Debatte, wenn in Paris die Rede davon ist, einen weiteren Feiertag zu streichen.