Frohsinn trotz Frost und Zoten

Wenn Bremen Brasilien sein will, endet das manchmal in Peinlichkeit. Trotzdem: 1.700 Sambistas können nicht irren, und mit der „FreiNacht“ in den Wall-Anlagen gab’s ja auch Originelles

Man hätte sich einen stilvolleren Ausklang dieses jecken Wochenendes gewünscht

Es ist spät am Abend, der Saal ist brechend voll. Auf der Bühne des Clubs trommelt eine Gruppe Betrunkener mit leeren Plastikflaschen rasende, monotone Rhythmen auf kleine Tische. Das Publikum beobachtet die bizarre Szene zwar aufmerksam, aber mit steinernen Mienen, ketterauchend und Unmengen Alkohol herunterstürzend. Die Frau aus Süddeutschland wendet sich verwirrt an ihren einheimischen Begleiter: „Was ist das hier? Ist das ein besonderer Brauch?“ Tuomas lächelt, zum ersten Mal seit langer Zeit: „Nein, das hier ist Table Drumming, eine Art Comedy. Die Leute amüsieren sich prächtig. Gefällt es dir nicht?“

Diese skurrile Anekdote aus einer Disco in Helsinki fällt mir schlagartig ein, als ich die Kesselhalle betrete. Auch beim „Ball ÜberALL“, dem krönenden Abschluss der diesjährigen Bremer Karnevalsfeierlichkeiten, scheint es trotz rasanter Live-Percussion und allgemeiner Trunkenheit an der ausgelassenen Stimmung noch zu hapern. Lediglich im Moshpit vor der Bühne groovt es träge, das restliche Narrenvolk sitzt, den treibenden Rhythmen der Samba-Gruppen beharrlich trotzend, stoisch auf den Rängen und trinkt Bier.

Daran kann auch der Moderator in seinem Cäsarenkostüm nichts ändern. Nach mehreren im allegemeinen Gemurmel verendeten Versuchen, die Menge mit gemeinsamem „Humba-Humba-Tätärää“- beziehungsweise „Bumm“-Rufen zum Kochen zu bringen, wird schließlich auf Fips-Asmussen-Niveau weiter gekalauert: „Will einer an meiner Stange Margarine lutschen?“

Man hätte sich einen stilvolleren Ausklang dieses jecken Wochenendes wünschen können, das am Freitagabend mit dem „Einheizen“ so vielversprechend begonnen hatte. Von dem mit paramilitärischem Drill peinlichst penibel durchorganisierten Massenfrohsinn nach Protokoll, der einem südlich des Mittellandkanals als Referenzbeispiel deutscher Spaßkultur angedient wird, war der Bremer Samba-Karneval unter dem Motto „All überALL“ Lichtjahre entfernt.

Ästhetischer Höhepunkt war die „FreiNacht der Masken“ in den Wallanlagen. Sphärische Ambient-Klänge durchzogen das riesige Gelände, bizarre, bunt beleuchtete Kulissen verwandelten den Park in eine surreale Traumwelt, in der sich die mehr als 200 Maskenspieler zur spontanen Improviastion zusammenfanden.ie Stelzenwesen vom Saturn lungerten träge in ihren Hängematten und beäugten misstrauisch eine knollnasige Familie von Erdlingen, die sich verlaufen hatte. In der Löwenkampfarena betrachtete ein Königspaar den dargebotenen Schaukampf zweier Gladiatoren, während aus der Nähe die verstörenden Klänge der riesigen Baumharfe herüberwehten.

Nach und nach versammelten sich alle Maskenspieler zum krönenden Abschluss des fantastischen Spektakels um den riesigen Teufel, der von den feuerspeienden Stelzengängern in Brand gesetzt wurde. öllig benommen von dieser extraterristrischen Erfahrung mache ich mich auf den Weg zum nächsten Event. Meine angeborene Skepsis gegenüber dem Karneval, die mich im März 2001 aus meiner damaligen Wohnstatt Köln fliehen ließ, ist verflogen. Gut gelaunt spaziere ich über die Bürgerweide, dem Schlachthof entgegen. Mal sehen, was mich da erwartet.

Es ist spät am Abend, der Saal ist brechend voll ...

Till Stoppenhagen