Last Exit Hodenhagen

Erinnert sich noch jemand an die langen Sommer der Achtzigerjahre? Per Interrail durch Italien, Spanien, Portugal? Tauschen wir unsere Vergangenheit also gegen ein Wochenendticket: Eine sentimentale Reise zwischen Sülze, Kirchmöser und Wirus

von ANSGAR WARNER

„Kann ich auch mit ’m Hunderter bezahlen!?“ Der fette BVG-Knecht hinter der Panzerglasscheibe stieß ein verächtliches Lachen aus, der Lautsprecher knackte gereizt: „Türlich!“ Ratternd kamen Wechselgeld und Fahrschein durch die Sicherheitsschleuse.

Mein Kumpel Richard hielt das kleine Rechteck umständlich langsam ins Licht der Neonröhren: „Schönes Wochenende Ticket“ stand darauf, das Hologramm funkelte in allen Regenbogenfarben, während von der Friedrichstraße die trübe Wintersonne hereinschien.

Als ich ächzend die Tragriemen meines feldgrauen Rucksacks festzurrte, kam augenblicklich die Erinnerung an die langen Sommer der Achtzigerjahre zurück. Interrail, per Eisenbahn einen Monat lang durch ganz Europa, zumindest Westeuropa. Nach den großen Ferien hatten wir dann in einer der langweiligen Geschichtsstunden („Der Feldzug im Westen“) auf der stummen Karte eines Arbeitsblattes unsere Fahrtroute eingezeichnet. Quer durch Belgien und Frankreich, und dann sogar noch Italien, Spanien und Portugal. Irgendwann kam dann das Abitur, die Wiedervereinigung. Seit dem war ich selten aus Berlin rausgekommen. Höchste Zeit, das zu ändern.

Richard, alter Reichsbahner und erfahrener SWT-Fahrer, hatte Vorbereitungen getroffen, als ginge es von Bagdad nach Stambul: Der Fahrplan aus dem Kursbuch zusammengestellt, und auf der Shell-Generalkarte das Ziel sauber eingezirkelt: Hodenhagen, Lower Saxony, irgendwo im Dreieck Bergen-Belsen, Eschede und Neustadt am Rübenberge. Dorthin hatte es seinen Kumpel Karl verschlagen. Im Sommer verdingte der sich im Freibad Frimmersen als Bademeister, im Winter zog er mit einer Minibar für einen tschechischen Subunternehmer durch die norddeutschen Regionalzüge. Noch einer von den Working Poor also. Hatte früher mal sein Erbe in Telekom-Aktien investiert, jetzt schrieb er nur noch Postkarten, Porto bezahlt Empfänger.

„VORSICHT AN GLEIS DREI!!!“ Schon fuhr ein Zug aus lauter knallroten Doppelstockwagen kreischend in die Bahnhofshalle hinein. „Allzeit bereit, Jugendfreunde“, rief Richard lauthals und überflüssigerweise, schließlich war außer mir niemand zu sehen. Dann salutierte er merkwürdig steil mit der Hand an der Stirn und erklomm den Waggon. Regionalbahn nach Stendal, Schienenbus nach Salzwedel, dann wieder Regionalbahn nach Uelzen. Wenn alles nach Plan lief, würden wir irgendwo auf der Strecke auf Karl stoßen, zusammen bis Uelzen fahren, und dann mit seinem geleasten Smart rüber nach Hodenhagen, wo er sich billig in einem Siedlungshäuschen eingemietet hatte. Klang alles ein bisschen riskant. Doch tatsächlich klapperte kurz hinter Salzwedel plötzlich ein mobiler Kiosk durch den Wagen: “Austernstew & Leberkäse & Krabben & Wiegebraten in Scheiben!!??“

Der Bademeister a. D., schrankbreit wie ein Kampfschwimmer, setzte sich zu uns. Wir rauchten erst mal eine und redeten über die neuen Bahntarife („Mehdorn, diese Drecksau!“, fluchte Karl mehrmals, schien wirklich in Ordnung zu sein!), dann entwickelte sich eine Diskussion über die Etymologie von Ortsnamen wie Sülze, Kirchmöser, Uetze-Krätze. „In England“, warf ich ein, „gibt’s eine Bahnstation mit so einem Tripelnamen, so à la Stratfort-upon-Avon, die abgekürzt B.S.E. heißt …“ Das sei ja noch gar nichts, meinte Karl, in Brandenburg lauere schon seit jeher ein Ort mit dem Namen „Wirus“.

Am Ende diskutierten wir über den Nahverkehr, der letzten Bastion preisbewusster Schienenfreunde. Doch Karl klang nicht sehr begeistert. „Da steigen die merkwürdigsten Leute zu. Am Totensonntag letztes Jahr, der Zug war komplett leer, kommen in Urningsleben plötzlich zehn Herren in schwarzen Anzügen rein, still wie die Geister. Haben auf der ganzen Fahrt kein einziges Wort gesprochen!“ – „Na ja, vielleicht Schachspieler!?“ erkundigte sich Richard. Karl hörte gar nicht hin, sondern fuhr fort: „Und dann der Trittin!“ Tatsächlich. Überall hingen an den Kleiderhaken der Waggons die Kundenzeitschriften der Bahn AG. Mit Trittins Schnurrbartgesicht auf der Titelseite. „Stellt euch das mal vor. Dreißig, vierzig Trittins schaukeln im Gleichtakt hin und her, stundenlang, und draußen auf der Strecke ist der Horizont voller Windkraftanlagen, die haben ja Renditen, das einem ganz schwindlig wird!!!“

Karl hängte die Trittins regelmäßig ab, aber es nützte nichts: nachts kamen immer wieder die Albträume vom Börsencrash. Musste sich wirklich gewaltig verspekuliert haben – aber was sollten wir denn sagen: dass wir seit der Tarifreform nicht mehr ICE fuhren, lag ja auch nicht daran, dass wir besonders abergläubisch waren.

„Da iss schon Uelzen“, rief ich schnell dazwischen, der Zug bremste auch bereits, und wir wurden unsanft in die Sitze gepresst. „Wenn ihr wollt, bring ich euch morgen mit dem Auto bis Braunschweig, dann müsst ihr auf der Rückfahrt nicht so oft umsteigen“, meinte Karl noch, bevor wir das Abteil hinter uns ließen.