Die Welt in der Höhle

Das Percussion-Festival „Cracking Bamboo“ schickte 50 junge Musiker in Südostasien auf die Suche nach einem respektvollen Dialog zwischen Asien und Europa. Gefunden haben sie eine Musik, für die man eigentlich einen neuen Namen bräuchte

Was genau bedeutet das eigentlich, ein gleichberechtigter Dialog in der Musik? Eine internationale Jamsession mit ein wenig Struktur?

VON KONSTANTIN BIKOS

Die Aktion war von langer Hand geplant. Als Touristen getarnt kamen sie auf zwei Dschunken aus dem smaragdgrünen Meer angeknattert und vertäuten die Boote in einer kleinen Bucht. Jetzt schleichen sich die 50 Gestalten vollbepackt die steilen Stufen zum gähnenden Eingang der Sung-Sot-Grotte hinauf. Hinter ihnen beißen sich schroffe Kalksteinklippen wie Haifischzähne in den stahlblauen Himmel. Oben angekommen, lassen sie sich vom hallenden Schwarz der Höhle verschlucken und verteilen sich im kolossalen Innenraum.

Auf ein Zeichen geht es los. Sachte zunächst, dann immer lauter, wird die Felsenkuppel vom Klatschen der kambodschanischen Skor Dyey, dem Peitschen der vietnamesischen Trong De, dem Rasseln der arabischen Riqq erfüllt. Durch den Klang der Trommeln wuselt sich von weit her das eindringliche Gequassel indonesischer Sprechgesänge. Bald hat sich die Höhle in einen Klangkörper verwandelt, in dem die Musiken der Welt zu einer Einheit verschmelzen. „Was wir da in der Höhle gemacht haben“, wird der indonesische Komponist Iwan Gunawan später sagen, „das war echte Weltmusik.“

Die Improvisation in den Inselhöhlen der nordvietnamesischen Ha-Long-Bucht bildete den Abschluss der ersten Phase von „Cracking Bamboo“, einem neuartigen Percussion-Festival, das in diesem Herbst als 5. internationales Musik-Camp „I’mPulse“ der Asia-Europe Foundation (Asef) in Vietnam und anderen südostasiatischen Ländern stattfand. „Wir haben das als Exkursion getarnt, weil wir sonst Fantasiebeträge für die Genehmigung hätten zahlen müssen“, sagt Bernhard Wulff, Initiator und künstlerischer Leiter der Veranstaltung, während er wie ein siegreicher Pirat am Bug des Bootes steht, das die Musiker zurück zum Festland bringt. „Das nenne ich positive Subversion“, fügt der 59-Jährige lachend hinzu, im wahren Leben Professor für Schlaginstrumente an der Musikhochschule Freiburg.

Eine Woche zuvor sitzt Wulff mit acht Musikern im Innenhof des Goethe-Instituts Hanoi zur ersten Strategiebesprechung. Draußen brüllt der endlose Strom der Motorräder, vom Eingangstor her strömt der Duft gegrillten Fleischs herein, wo eine Dönerbude weltgewandten Vietnamesen und heimwehkranken Expats typisch deutsches Essen anbietet. Die acht sind künstlerische Tutoren. Sie sollen Wulff in den kommenden zwei Wochen dabei helfen, das Konzept von „Cracking Bamboo“ in die Tat umzusetzen: den gleichberechtigten Austausch zwischen asiatischer und westlicher Musik mittels Schlaginstrumenten. Innerhalb einer Woche muss in drei kulturell bunt gemischten Gruppen je ein halbstündiges komponiertes Programm entstehen, das die Musikkulturen sinn- und würdevoll vereint.

Nach Konzerten in Hanoi (Nordvietnam) geht das Festival in die zweite Phase: Neu gemischte Gruppen sollen die Idee nach Ho-Chi-Minh-Stadt (Südvietnam), Jakarta (Indonesien), Vientiane (Laos) und Phnom Penh (Kambodscha) tragen. „Wichtig ist mir beim Kompositionsprozess, dass sich die Musiker nicht nur auf den kleinsten gemeinsamen Nenner verständigen“, gibt Wulff den Tutoren zu verstehen. „Für ein oberflächliches ‚tamtatatambambam‘ braucht man sich die ganze Arbeit nicht zu machen.“

Die ganze Arbeit – das waren immerhin acht Jahre Vorbereitungszeit. Damals nahm der vietnamesische Komponist Vu Nhat Tan teil an einem anderen, nicht weniger abenteuerlichen Event aus dem Hause Wulff: „Roaring Hoofs“, ein seit 1999 jährlich stattfindender internationaler Musiktreff in der Wüste Gobi. „Damals war es für vietnamesische Künstler noch fast unmöglich, mit der Außenwelt in Kontakt zu treten“, so Vu. Deshalb habe er Wulff eingeladen, hier ein Festival zu organisieren. Bis die Behörden überzeugt waren, bis mit der Asef ein Hauptsponsor und mit dem Goethe-Institut, der Vietnam National Music Academy (VNAM) und dem französischen Kulturzentrum L’Espace Partner vor Ort gefunden waren, floss vor den Toren der Stadt eine Menge Wasser den Roten Fluss hinunter.

Am Abend, zum Eröffnungskonzert, sind die Musiker endlich alle da. Im Gepäck: neue Perspektiven und jahrhundertealte Traditionen. Unvorstellbar fast, dass sich ihre musikalischen Mitbringsel in den nächsten Tagen in Rohmaterial verwandeln sollen. Da ist zum Beispiel Udai Mazumdar, dessen Finger in guter indischer Tradition in durchsichtig-flimmernder Präzision über die Tabla flitzen. Jean-Paul Zialcita hat die Kampfkunst und die Musiktradition seiner philippinischen Heimat zu einer energiegeladenen Performance gebündelt. Der Laote Khampheng Thammavongsa spielt auf dem Bambus-Xylophon Tungling einen traditionellen Tanz, das Freiburger Schlagzeug-Ensemble antwortet mit amerikanischer Minimal Music: „Drumming“ von Steve Reich. „Es ist ein bisschen so, als müsste man ein Gericht zubereiten“, kommentiert die belgische Sängerin und Tutorin Françoise Vanhecke die Vielfalt, „und man hat den ganzen Markt an Zutaten zur Auswahl.“

Der kleinste gemeinsame Nenner ist am nächsten Morgen, als sich die drei Gruppen zum ersten Workshop im Konservatorium treffen, jedenfalls schnell gefunden. Das ist die Stärke der Percussion: „Schlaginstrumente kennt jede Kultur, und es ist immer gleich ein Klang da, mit dem man hantieren kann“, erklärt Wulff. „Schlagzeuger können so besonders im interkulturellen Dialog eine hohe Kompetenz entwickeln.“ In Zeiten der Globalisierung werde dieser Dialog immer wichtiger. „Deshalb ist das Schlagzeug für mich ein Zukunftsklang.“ Und deshalb hat er auch nur Musiker eingeladen, die neben musikalischen Meriten eine Grundausstattung aus Offenheit, Neugier und Kompromissfähigkeit mitbringen. Junge Künstler, die neue Herausforderungen suchen in einer globalisierten Musikwelt.

Die Herausforderung von „Cracking Bamboo“ jedenfalls offenbart sich prompt, als die erste Aufwärmimprovisation ihren Schwung verloren hat und die Frage im Raum stehen lässt: Was genau bedeutet das eigentlich, ein gleichberechtigter Dialog? Eine internationale Jamsession mit ein wenig Struktur? Nein, denn zu einem interkulturellen musikalischen Austausch auf gleicher Augenhöhe kann es – anders als bei verbaler Kommunikation – nur dann kommen, wenn es jedem Beteiligten ermöglicht wird, seine eigene Sprache zu bedienen. Und im unreflektierten freien Spiel der Kräfte gewinnt zwangsläufig der Stärkere – sprich: Lautere und Schnellere –, der die fremden Idiome in sich aufsaugt und als exotische Gewürze wieder ausspuckt. Zu oft schon ist genau das passiert in der Geschichte des so genannten kulturellen Austauschs zwischen West und Ost.

In Bernhard Wulffs Gruppe ist man der Antwort auf der Spur. „Allein kann ich das jeden Tag spielen“, verteidigt der Brite Nicholas Reed die Idee, das Percussion-Werk „Shiftwork“ von Howard Skempton im Programm zu belassen. „Aber gerade in diesem Kontext hat das Stück eine viel größere Wirkung entfaltet. Genau für solche Momente bin ich hier!“ Immer wieder flammen die Diskussionen auf. Jede Idee wird infrage gestellt, unzählige werden verworfen.

Das Resultat ist ein fein austariertes Netzwerk aus kleinen eigenständigen Statements, die ganz unverkrampft miteinander kommunizieren und dabei die großen geografischen und kulturellen Entfernungen vergessen machen. Das Stück ist, wenn man so will, die Fleischwerdung des Konzepts von „Cracking Bamboo“. Da umschmeichelt die gutturale Tranquilität der vietnamesischen Sängerin Pham Thi Hue die klare Stimme von Samdandamba Badamkhorol, die in der mongolischen Kunst des Urtiin Duu von der Grassteppe ihrer Heimat erzählt; und der deutschtürkische Rahmentrommel-Guru Murat Coskun injiziert dem berechnenden Serialismus von Stockhausens „Kontakte“ mit einem Liebeslied eine Überdosis Emotion.

Und irgendwo dazwischen verlieren die Kategorien „traditionell“ und „zeitgenössisch“ an Kontur. Und mit den Begriffen erlischt alles Wertende, das ihnen im Kopf des Hörers anhaften mag. Der kann selbst entscheiden, ob er das Werk mit den Ohren der Neuen Musik rezipiert oder mit denen der Volksmusik, denn es ergibt aus beiden Perspektiven Sinn. Zeitgenössisch-traditionelle Welt-Volks-Musik eben.

Genau zugehört wurde jedenfalls im ausverkauften Opernhaus von Hanoi, das Publikum quittierte die Resultate mit tosendem Applaus. Selbstverständlich ist das nicht: „Vor zehn Jahren gab es für Neue Musik hier keine Abnehmer“, erzählt Komponist Vu Nhat Tan. „Projekte wie dieses können die Neugier der Menschen wecken.“

Und nicht nur das: Sie können einer durch geschichtliche Ereignisse versehrten Kultur wie der kambodschanischen helfen, sich aus ihrer Schockstarre zu befreien, sich zu erneuern statt nur zu konservieren; sie können einer strotzenden, aber im eigenen Land als Beiwerk abgetanen Kultur wie der laotischen ein Selbstwertgefühl verleihen. Und sie können Musikern wie dem Philippino Zialcita die künstlerischen Impulse und die Anerkennung liefern, die ihnen in ihrer Heimat versagt bleiben. „Dieses Festival hat mein Leben gerettet“, sagt Zialcita. Er meint das zwar nicht wörtlich, aber er meint es ernst.

Vielleicht sind Bernhard Wulff solche Effekte noch wichtiger als der musikalische Output. „Ich möchte in den Menschen den Wunsch nach Offenheit und Differenz wecken, indem ich ihrer Wahrnehmung etwas Neues anbiete“, sagt Wulff. „Ich habe oft beobachtet, wie solche Begegnungen die Sinne schärfen.“ Es ist genau dieser Prozess, dessen Quintessenz der ungewöhnliche Name des Festivals so treffend in zwei Worte verdichtet: „knackend knisternder Bambus …“, sinniert Namensgeber Wulff, „das suggeriert für mich ein besonderes Geräusch der Aufmerksamkeit.“