: Erst Aufbau, dann Abriss
Als vor 25 Jahren der Bau von Marzahn beschlossen wurde, konnte man noch nicht wissen, dass der Bezirk einmal zum Markenzeichen für ganz Berlin werden würde. Marzahn kennt jeder und alle haben ein Urteil parat. Eine Bilanz
Es gehört zu den Eigentümlichkeiten junger Stadtbezirke oder Neubauviertel, dass sie ständig Geburtstage feiern. Das Märkische Viertel zum Beispiel wird in diesem Jahr 30, Hellersdorf wurde vergangenes Jahr 15, und gestern wurde Marzahn 25. Wir gratulieren, nur: wozu?
Dabei gäbe es eigentlich Grund genug. Marzahn ist eines der Markenzeichen unserer Stadt. Das Label Marzahn kennt man in Kiew ebenso wie in den großen Städten Zentralasiens. Marzahn ist aber nicht nur eine Inkunabel des industriellen Wohnungsbaus, der Großplatte, der sozialistischen Stadt.
Von Marzahn lernen bedeutete in den vergangenen Jahren in Prag, Warschau und anderen Städten des ehemaligen Ostblocks auch sanieren lernen. Sogar der ehemalige Wirtschaftssenator Norbert Meisner ist heute als Botschafter der Plattenbausanierung unterwegs. Was nur wird er seinen Gesprächspartnern sagen, wenn sie ihn auf den Marzahner Geburtstag ansprechen. Dass man nun auch in Berlins größtem Neubaugebiet mit dem Abriss beginnt?
Für die meisten mag Marzahn eine urbane Wüste sein, über die sich schnell ein Urteil fällen lässt. In Wirklichkeit jedoch ist der Bezirk, dessen Bau am 5. Januar 1979 beschlossen wurde, ein ebenso komplexes Gebilde wie Kreuzberg oder Köpenick. Marzahn, das war in den Gründerjahren Aufbruch, ein Versprechen, den engen Behausungen in Prenzlauer Berg zu entkommen. Marzahn, das war gewissermaßen überfällig in Berlin, Hauptstadt der DDR, schließlich waren in Eisenhüttenstadt, Hoyerswerda und Schwedt längst „sozialistische“ Städte entstanden.
Dass aus dem einstigen Stolz der Ostberliner Städtebauer nach der Wende nicht nur ein Sanierungs-, sondern auch ein Abrissfall wurde, hat man immer wieder einseitig auf die Architektur zurückgeführt. In Wirklichkeit aber war Marzahn ein Abwanderungsbezirk mit Ansage. Die Kinder jener Familien, die 1979 und später an die Allee der Kosmonauten gezogen sind, sind heute in dem Alter, in dem Familien gegründet und Bausparverträge eingelöst werden. Dass da jede zehnte Wohnung leer steht, war absehbar.
Nicht aber der Abriss. Fast alle haben ihn zu verhindern versucht. Die Marzahner Bezirkspolitiker, Bürgerinitiativen, am Anfang sogar der Bausenator. Doch die Lobbyarbeit der Wohnungsbaugesellschaft war stärker. Nun müssen 1.200 Wohnungen unter anderem dem Bau der „Ahrensfelder Terrassen“ weichen. Nun muss man der WBG sogar dankbar sein, dass sie mit dem Abriss bereits im Dezember und nicht erst gestern begonnen hat.
Worüber in der Öffentlichkeit, aber auch am Geburtstag kaum geredet wird: Marzahn ist ein Einwandererbezirk. Fast jeder Zehnte spricht Russisch als Muttersprache. Von den Russlanddeutschen, die in den unsanierten und nun zum Abriss stehenden Hochhäusern einen großen Teil der Mieter gestellt haben, wird sich freilich keiner eine Wohnung in den Ahrensfelder Terrassen leisten können.
Bleibt die Frage, wer bleibt. Die Älteren, die Immobilen, die Einwanderer? Wenn Marzahn seinen 30. Geburtstag feiert, wird es wohl mehr noch als bisher heißen: sozialer Brennpunkt. Und die Abrissbirne könnte, ähnlich wie beim Schöneberger Sozialpalast, als Mittel der „sozialen Hygiene“ begriffen werden.
Eines gibt es dennoch zu feiern. Wenn von Marzahn die Rede ist, denkt man nicht mehr nur automatisch an Nazis. Das war wohl doch zu einfach. UWE RADA