gib mir den hobel, junge! von JOACHIM SCHULZ
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Einer plötzlichen Grille folgend, beschlossen die Liebste und ich, Anne und Bernd einen Besuch abzustatten. Es war Sonntagnachmittag, und unser Wochenendeinkauf wies leider schwere Mängel auf. Wie schon so häufig hatten wir vergessen, unsere Plätzchen- und Kaffeevorräte aufzufüllen, und deshalb hatten wir nur die Wahl, entweder zu Hause zu bleiben und den Sonntagskaffeetisch mit Leberwurstbroten und Kamillentee zu bestücken oder aber unsere alten Freunde wieder einmal mit einer unangekündigten Visite zu überraschen.

Diesmal indes war die Überraschung ganz auf unserer Seite, denn als uns aufgetan wurde, brandete uns nicht wie üblich ein hocherfreutes Begrüßungshallo entgegen; stattdessen blickten wir in ein graues, müdes, von tiefen Augenringen gezeichnetes Gesicht. Es gehörte zu Anne. „Ach, ihr seid’s … kommt rein“, sagte sie mit tonloser Stimme, ehe sie davontrottete und uns in der Wohnungstür stehen ließ. „Vielleicht kommen wir ungelegen?“, murmelte die Liebste zweifelnd. Ich allerdings schob ihre Bedenken beiseite. „Willst du Leberwurstbrote? Willst du Kamillentee? Also voran!“, sagte ich und drängte sie in die Wohnung hinein.

Wir folgten Anne in die Küche, wo wir indes nicht nur unsere zermürbten Freunde antrafen, sondern auch zwei Herrschaften älteren Baujahrs, die unverkennbar gegen das Sonntagsarbeitsverbot biblischer Prägung verstießen. „Meine Eltern“, sagte Anne tonlos und wies auf die beiden. Ihre Mutter hatte soeben den Vorhang vorm Fenster abgenommen; ihr Vater wiederum stand auf einer Leiter und war damit beschäftigt, am Deckenanschluss der Küchenlampe herumzufummeln. „Tach, tach!“, sagte er zackig, dann wandte er sich an mich: „Ach, guck doch mal, Junge, ob du im Werkzeugkasten einen Phasenprüfer findest, dieser Stiesel von einem Schwiegersohn in spe“, und damit wies er auf Bernd, „ist ja nicht mal in der Lage, eine Kombizange von einem Engländer zu unterscheiden!“

Auch die Liebste wurde sogleich verhaftet und zum Vorhängeeinweichen in Richtung Badewanne abkommandiert. „So geht das seit Freitagabend!“, flüsterte Bernd mir zu. „Nachdem wir uns in den letzten Jahren immer fadenscheinige Ausreden haben einfallen lassen, sobald sie sich irgendein Wochenende für einen Besuch ausgesucht hatten, sind sie diesmal ohne Ankündigung gekommen. Jetzt haben sie in knapp zwei Tagen fast die ganze Wohnung grundgereinigt und renoviert!“

Ich dachte fieberhaft über Fluchtmöglichkeiten nach, doch leider hatte Annes Erzeuger starken Gefallen an meinen Werkzeugkenntnissen gefunden. „Gib mir den Hobel, Junge!“, sagte er, da er unterdessen die seiner Meinung nach schleifende Küchentür ausgehängt hatte, und so verbrachte ich den Rest dieses Sonntags mit Sechserdübeln, Schraubenziehern und Lüsterklemmen, während die Liebste sich intensiv mit den Geheimnissen des Vorhangwaschens und Gardinenbügelns bekannt machen konnte und wir uns bei unseren Begegnungen zwischen Badezimmer und Küche mehrfach versicherten, nie wieder ein gutes Leberwurstbrot und eine schöne Tasse Kamillentee zum Sonntagskaffee zu verschmähen.