nebensachen aus washington
: Vom aussichtslosen Kampf gegen die Schneeflocke

In Washington steht das Leben still

Es hat über Nacht geschneit. Und kalt ist es auch. Auf den Straßen liegt Schnee, Autos sind unter der weißen Pracht versteckt. Ein paar Kinder bauen Schneemänner, irgendwo kämpft jemand verzweifelt mit seinem Kleinlaster. Ansonsten ist es friedlich und ruhig. Geradezu gespenstisch. Die breite 16. Straße, gewöhnlich eine pulsierende Verkehrsachse, an deren Ende das Weiße Haus steht, ist nichts als eine lange, leere Schneise. Einige vermummte Wesen streunen umher. Es weht ein eisiger Wind. Die Lichter in den Geschäften bleiben dunkel. Ein surrealer Film. Und über der Stadt hängt ein riesiges Schild: Heute geschlossen.

Tagelang hatten Medien und Regierung die Menschen verrückt gemacht. Bald werde es einen schlimmen Terrorangriff geben, und damit es auch der letzte Skeptiker glaubt, flackerte unentwegt „Code Orange“ über den Bildschirm, die zweithöchste Sicherheitsstufe. Die Amerikaner stürmten daraufhin Supermärkte und deckten sich mit Kilometerrollen Tesaband ein, um notfalls ihre luftig gebauten Häuser abzudichten – ein Rat, der jedoch rasch wieder korrigiert wurde, da frühzeitiger Erstickungstod droht. Auf alles war man bestens vorbereitet: auf Giftgas in U-Bahnschächten, Milzbrand in Briefen, Atombomben im Stadtzentrum. Nur nicht auf Schnee. Und das, obwohl alle diese vierradgetriebenen Blechmonster besitzen und auf die US-Medien ja nun wirklich Verlass ist und ebenfalls Tage im voraus, in „Snow-Storm-Watch-Breaking-News“, vor dem Angriff der Flocken gewarnt wurde.

Es half alles nichts. In der Kapitale der einzigen Supermacht dieses Planeten stand das Leben still. Drei Tage. Keine Flüge, keine Busse, keine Post, teils kein Strom, keine Zeitungen, keine Schulen, keine Müllabfuhr und – last not least – kein Fastfood. Egal, die Umwelt freute sich, die Wirtschaft stöhnte, und Joe Normalverbraucher dankte für ein sehr langes Wochenende und machte es sich mit Pizza vor dem Fernseher bequem. Dort läuft momentan die Endlosserie „Unsere Jungs in der Wüste von Kuwait“ und „High-Tech-Krieg für Anfänger“. Jeden Abend wird eine neue Wunderwaffe vorgestellt, und Reporter singen das Loblied auf die „beste und konkurenzlose Armee der Welt“ (O-Ton George). Bilder von unsichtbaren Kampfbombern, Laserkanonen und rasend schnellen Panzerketten, die sich durch den Wüstensand fräsen, flimmern in die warmen Stuben, sofern die Energieversorgung nicht erneut zusammengebrochen ist.

Immer wieder dieser Wüstensand. Und so langsam dämmert es einem. Wüste. Sand. Heiß. Nicht kalt. Warum Irak, fragt sich die ganze Welt. Öl? Kein Schnee! Ganz anders dagegen in Nordkorea. Man kann sich die Schadenfreude in Pjöngjang richtig vorstellen. Denn mit CNN ist schließlich auch Kim Jong Il live dabei, wenn die US-Ostküste im Winterchaos versinkt. Mit martialischer Sprache wird daher gegen den Feind Schnee zu Felde gezogen. „Wir werden den Schnee besiegen“ oder „Kampf ums Freischaufeln“ titeln die US-Zeitungen und wissen, dass sie letzteren längst verloren haben. Unbeeindruckt von all dem zeigen sich einzig die Chinesen. Auf Skiern liefern sie eingeschneiten Vorstädtern Frühlingsrollen und gebratene Ente ins Haus. Amerikas Stern sinkt. Gebt acht auf die Chinesen!

MICHAEL STRECK