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: Kein Mythos, kein Traum: das Neuköllnbuch widmet sich einem Bezirk mit schlechtem Ruf

Neukölln ist mit 320.000 Einwohnern der größte Bezirk Berlins – oder vielmehr war es bis zur Bezirksreform im vergangenen Jahr. Bis zur Eingemeindung in Groß-Berlin 1920 war Neukölln bzw. Rixdorf – so hieß es damals –eine eigenständige Stadt. Auch heute noch ist Neukölln mehr Stadt als Stadtteil, mit allem, was dazugehört: einem Zentrum, einer Peripherie, Vororten, dörflich anmutenden Einsprengseln, Industrielandschaften und einer hässlichen Hochhaussiedlung, der spätestens durch Christiane F. berühmt gewordenen Gropiusstadt. An manchen Ecken fühlt sich Neukölln immer noch so an, wie Rixdorf klingt: nach Erbsenpüree und Bier. An anderen Orten entspricht es seinem trashig-tristen Image. Und oft hat man gar nicht das Gefühl, in Neukölln zu sein. In dem in einer Einkaufspassage versteckten Kino Rollberg etwa wähnt man sich in seine westdeutsche Jugend zurückgebeamt.

Neukölln mag viele Gesichter haben. Wie die Herausgeber des gerade erschienenen „Neuköllnbuchs“, die sich zuvor schon mit dem „Kreuzbergbuch“ und dem „Mittebuch“ verdient gemacht hatten, in ihrem Vorwort zu Recht bemerken, hat der Bezirk aber weder einen Mythos noch einen Traum. Anders als eben Kreuzberg und Mitte. Dafür hat Neukölln einen Ruf, einen ziemlich schlechten sogar. Immerhin war der Stadtteil die rechtsfreie Kulisse für diverse Sex-, Crime- & Sozialbetrug-Homestorys im Spiegel und beherbergt das größte Sozialamt Europas.

Wenn man einen roten Faden zwischen diesen Beiträgen spinnen möchte, dann vielleicht, dass es offensichtlich keinen besonderen Grund gibt, der die Menschen in Neukölln landen lässt. Ohne einen Mythos und ohne einen Traum entwickelt ein Bezirk eben auch keinen Sog.

Aber das Leben besteht ja in erster Linie aus alltäglichen Begebenheiten, und die können natürlich ebenso nach Neukölln wie sonstwohin führen. Zum Beispiel, wenn man sich – wo die Liebe eben hinfällt – immer wieder in Neuköllnerinnen verknallt. Von einem solchen Schicksal erzählt Manuela Kay. Tanja Dückers dagegen führen Partyvorbereitungen in die Hermannstraße, sie muss im „Zauberkönig“ – „dem Fachgeschäft für Magie“ – einen Plastikschnurrbart finden.

Ebenso lobenswert wie selbstverständlich ist es, dass die Autoren des „Neuköllnbuchs“ eine Perspektive jenseits der Neukölln-Klischees suchen. „In diesem Bezirk ist zu leben. Wie gut und wie schlecht, davon erzählen die Beiträge in diesem Buch.“ Auch ein Klassiker: Man bekommt als frischer Neu- oder Bald-Berliner eine Wohnung in Neukölln angeboten. Nicht der schlechteste Start, zumindest ein aussagekräftiger Testlauf. Wer in Neukölln klarkommt, wird sich auch mit Berlin anfreunden. Christian Y. Schmidt jedenfalls mochte „diesen heimeligen Siebzigerjahre-Muffgeruch, eine Mischung aus nicht gegossener Blumenerde, zu feuchter Bettwäsche und altem Kaffeesud […]. Besonders gefiel mir, dass diese Wohnung mich nicht nervös machte. Genauso wie der ganze Kiez. Alles hier in Neukölln strahlte eine entschlossene Ehrgeizlosigkeit aus, was mich sehr beruhigte.“ Heute wohnt Schmidt trotzdem in Singapur.

Und Sarah Schmidt lässt sich vom dem Lenker des Motorrads, der sie im Feindesland Mitte fast umgefahren hat und sie zur Entschuldigung „Schneckchen“ nennt, ganz gebannt in eine echte Parallelwelt entführen – zum One Night Stand in die Gropiusstadt.

Viele der Geschichten haben Unterhaltungswert und lesen sich gut weg. Was aber nicht verhindert, dass man sich nach der Lektüre einer geballten Ladung der sehr subjektiv gehaltenen „Neuköllnbuch“-Texte fragt: „Na ja, und?“. Denn von ein paar Ausnahmen abgesehen – großartig ist z. B. Deniz Yücels Porträt eines türkischen Videoverleihers – bleibt oft unklar, was die Geschichten mit Neukölln zu tun haben. Hier wären konkretere Bezugnahmen – z. B. die Reibung mit einem Mythos – eben doch hilfreich gewesen, um die Texte nicht in die Beliebigkeit abgleiten zu lassen. So charmant es ist, wie Annette Berr von ihren sammelwütigen Eltern erzählt – Neukölln scheint in dieser Geschichte weit weg, auch wenn es dort viele Trödelladen gibt.

Ein paar Dinge kann man vom „Neuköllnbuch“ aber dennoch lernen: Zum Beispiel scheinen Internet-Kontaktbörsen bei der Anbahnung von schwulem Sex hier eine wichtige Rolle zu spielen. Zumindest kommt das gleich in zwei Geschichten vor. Da sind die Kreuzberger Bars offensichtlich eben doch weit weg.

STEPHANIE GRIMM

„Neuköllnbuch“. Herausgegeben von Verena S. Diehl, Jörg Sundermeier, Werner Labisch. Verbrecher Verlag; 183 Seiten, EUR 12,30