Der einzig wahre Metropolensender

So ist Berlin: Singende Kurden, dozierende Beatpoeten, an Kartoffeln interessierte Schüler. Der Offene Kanal hat sie alle und lässt sie senden

VON JENNI ZYLKA

In dem Buch „Willkommen, Mr. Chance“ von Jerzy Kosinski erlebt ein sympathischer Gärtner die Welt jahrzehntelang ausschließlich durch den Fernseher. Alles, was er weiß, alles, was er glaubt, hat er dort gesehen. Das macht ihn zu einem ganz speziellen Menschen.

Noch spezieller wäre Mr. Chance geraten, wenn er das Leben allein durch einen einzigen Fernsehsender kennen gelernt hätte. Durch den Offenen Kanal Berlin (OKB) zum Beispiel, der ein wirklich bemerkenswertes Bild der Berliner Mitmenschheit vermittelt.

Wenn man nur kurz in diesen Kanal hineinzappt, erwischt man meistens entweder singende Türken oder Kurden oder ein Testbild mit Ankündigungstafeln der nächsten Programme, etwa die Wiederholung der „Tierschutztagung vom 3. Dezember 2001“ oder „Kartoffeln – Schüler fragen nach“. Natürlich sind das nicht immer die gleichen Türken oder Kurden, und nicht immer die gleichen Schüler. Die singenden Türken oder Kurden sind oft entweder niedliche kleine Jungs, die bei Familienfeiern in hübschen glänzenden Gewändern in ein Mikrofon jammen, oder es sitzt eine ernste Männergruppe unter Schwarzweißfotos von verschiedenen bärtigen Köpfen an einem Tisch, einer spielt ein Zupfinstrument und einer singt dazu eine traurige Weise. Auch wenn man die Sprache nicht spricht, kann die feierliche Würde, mit der die Männer singen, eine gewisse Ruhe vermitteln. Man muss es nur zulassen. Eine Menge Leute verstehen englische Songtexte ebenfalls nicht komplett, und lassen sich dennoch von der Stimmung einfangen.

Manchmal vertut man sich aber auch, und der auf den ersten Blick als würdevoller Türke kurz vor seinem Solo klassifizierte bärtige Interviewpartner erweist sich plötzlich in Wirklichkeit als Oscar Brown Jr., ein genialer Beatpoet, Songschreiber und Jazzvocalist der amerikanischen Hipster-Generation Anfang der Sechzigerjahre. Dieser Mann, dessen Text zu „Work Song“ ein Klassiker des politischen Jazzsongs ist, und der mit „Dat dere“ das netteste Kinderlied der Welt geschrieben hat, sitzt einem Professor Donald Muldrow Griffith gegenüber und erzählt – natürlich in seiner Muttersprache und in seinen grauen Bart – von der Linken in den Vereinigten Staaten zu Zeiten der Bürgerbewegungen und der Gewerkschaftsoffensiven. Hochinteressant ist das, und nach einiger Zeit fällt einem auch ein, an was das Ganze erinnert: An Alexander Kluges aussterbendes und furchtbar fernsehuntypisches Interviewformat, bei dem die Gesprächspartner so lange reden dürfen, wie sie wollen. Das Interview mit Brown Jr. ist zwar schon von 1998 (da war er zum Jazzfest in der Stadt), aber wer sagt denn, dass nur aktuelle Interviews interessant sind? Schließlich ist gerade eine ganze Zeitung mit uralten Interviews auf dem Printmarkt aufgetaucht, sie nennt sich Galore und steht zu ihren inhaltlichen Bärten.

Nach dem Oscar-Brown-Jr.-Komplex und ein paar wirren Dias zu Tears-For-Fears-Musik steht eine Dame mit Fliegermütze und Nachthemd auf einer Theaterbühne neben einer kleinen Trittleiter und beginnt, eine Art Sprachübung zu machen. Oder sie zitiert Kurt Schwitters. Irgendwie erinnert sie an das triadische Ballett der Zwanziger, vor allem, weil sie mit starren Fitnessbewegungen loslegt. Das ist der Zeitpunkt, an dem man sich wieder vom OKB lösen sollte, um etwas darüber nachzudenken.

Könnte es sein, dass in einer medialen Nische wie dem Offenen Kanal das echte, wahre Kulturgeschehen überleben kann? Dass genau der Dilettantismus, mit dem AbiturientInnen ihre grässlich langweiligen Abibälle filmen, die Naivität, mit der eine schwedische Kinder-und-Erwachsenen-Gruppe ernsthaft eine Diskussion durch einen „Talking Stick“ bestimmen lässt (das ist ein alberner Holzstock, den man in die Hand nehmen muss, bevor man überhaupt etwas sagen darf, und der jedes Gespräch für den Zuschauer sofort zum Sketch macht, so unsinnig ist er), dass genau das die Qualitäten sind, die man bei nicht offenen Kanälen vermisst? Sind nicht die stetig matschigen Farben, die wenigen Schnitte und die schaukeligen Zooms eine wahre Wohltat nach den grellbunten Werbespots und Boulevard-ModeratorInnen-T-Shirts und den Videoclip-Cuts, die schwindelig machen?

Anstatt Werbung stehen im Offenen Kanal Testbilder in grünlich-gräulichen Farben, dazu läuft Radio. „Werbung und Erzielung von Einnahmen sind verboten“, heißt es in der Satzung des OKBs, die man im Internet einsehen kann – könnte das nicht eigentlich ein Qualitätsmerkmal sein? Und bürgt eine Sendung, die „Neuköllner senden für Neukölln“ heißt und tatsächlich drei Mal die Woche läuft, nicht ebenfalls für eine bestimmte Art von Qualität?

Die Berliner StudentInnen, die den OKB Mitte Dezember für dreißig Stunden besetzt hatten, wussten schon, was sie wollten: Sie taten ihre Meinung im meinungstolerantesten aller Massenmedien kund, das leider auch am wenigsten Menschen interessiert. So ist das aber mit der Meinungsfreiheit.

Dabei muss man nur lernen, den OKB richtig zu goutieren: Mann muss ihn genüsslich gucken, nicht hektisch. Man muss ihm Zeit geben. Ihn als Performance, Installation, irgendwie komische Kunst anerkennen. Dann macht er Spaß und erfüllt den von den öffentlich-rechtlichen Sendern vereinnahmten Lehrauftrag besser als jeder forsch als Nachrichten ausgegebener Kommentar des ZDF, jede Vorabendserie der ARD. Und falls man sich aufregt, kommt bestimmt wieder der nächste reizende kleine Junge und singt eine traurige Weise, die einen beruhigt.