Das Recklinghausen-Syndrom

Eine Bank lässt sich auch auf zivilisierte und höfliche Art und Weise überfallen

„Dies ist ein gewaltfreier Überfall“, flötet der Bankräuber, nachdem er die Schalterhalle vorsichtig betreten hat. „Bitte zwingen Sie mich nicht zum Waffengebrauch. Wir können über alles reden.“

„Sind wir jetzt Ihre Geiseln?“, fragt ein Mann, der gern eine Orientierung hat im Leben. „Ja“, antwortet der Bankräuber wahrheitsgemäß, „aber bitte lassen Sie doch Ihre Hände unten. Ich bevorzuge für meine Opfer weitestgehende Selbstbestimmung.“ Dann schaut er den Kassierer an und singsangt: „Und jetzt hätte ich gern das Geld.“ Der Kassierer ist auch nur ein einfacher Angestellter und geht in den Keller, um es zu holen.

„Ich finde, das dauert ziemlich lange“, sagt ein Mann, der einen Termin hat. „Ich habe keine Zeit mehr“, fügt er energisch hinzu und will aufbrechen. „Jeder hat Zeit“, erwidert der Bankräuber. „Der Mensch lebt in der Zeit. Ausnahmen gibt es nur am Samstag zwischen 15 und 17 Uhr sowie an den langen Donnerstagen. Aber man muss dafür einen Antrag stellen und darf die Zeit, die man nicht hat, nicht überschreiten.“ Da staunen die Bankkunden. „Zufällig habe ich einige Formulare bei mir. Jeder, der keine Zeit haben will oder seine Zeit loswerden, kann bei mir einen Antrag stellen.“ Dieses Angebot nehmen die Kunden gern an. Anschließend bekommen all jene, die keine Zeit haben, Zeit von denjenigen, die ihre Zeit loswerden wollten, und alle, die ihre Zeit loswerden wollten, erhalten keine Zeit. Dann ist erst mal wieder Ruhe.

„Das ist ein guter Moment, von meinem Leben in einer Hutschachtel zu berichten“, erklärt eine Frau und erzählt: „Ich lebte einst in einer Hutschachtel. Es war furchtbar dunkel darin und sehr eng.“ Damit ist die Geschichte zu Ende, aber sie kommt nicht gut an. „Pffff“, macht eine Frau mit einer Sandra-Maischberger-Frisur, „wenn es jedenfalls eine Kommode, ein Schuhschrank oder eine Spülmaschine gewesen wäre. Da ist jedenfalls was los. Aber so …“ Nun schämt sich die Frau mit der Hutschachtel-Geschichte sehr.

In diesem Moment kommt die Polizei. Und die Feuerwehr. Und ein Notarztwagen. Die hat der Kassierer zu Hilfe gerufen. Dann kommt noch die Gebäudereinigung, aber nur weil sie donnerstags hier immer sauber macht. Und ein Abrissunternehmen, aber nur, weil es die gleiche Telefonnummer wie die Gebäudereinigung hat. Und ein unbeteiligter Passant, aber der schaut nur kurz vorbei, weil er was gehört hat und mal kurz nachschauen wollte. „Oje“, jammert der Bankräuber und versucht sich hinter einer Stellwand mit Immobilienangeboten zu verstecken.

Als die Polizei, die Feuerwehr, der Notarzt und all die anderen den Schalterraum betreten, soll sich der Bankräuber ergeben. „Ich möchte lieber mit einem Anwalt meines Vertrauens sprechen“, antwortet er, „oder mit einem Hubschrauber wegfliegen. Oder ein schönes Lied singen.“ Ausnahmsweise darf er ein schönes Lied singen. Es heißt „Die Phase mit den wenigsten Abwechslungen in meinem Leben“ und besingt seine Jugend, die er in Recklinghausen verbracht hat. Als das Lied zu Ende ist, regnet es Applaus für den Bankräuber. „Wir müssen Sie jetzt leider festnehmen“, sagt ein Polizist. „Trotzdem schade“, meint da der Abrissunternehmer, holt seinen Bagger und sprengt die Bank entzwei.JAN ULLRICH