Erklär mir die Türken

Cem Özdemirs Buch „Die Türkei“ will zeigen, warum „die so ticken“. Ein Jugendbuch, dem es ums Verstehen türkischer und deutsch-türkischer Zusammenhänge und Gesellschaften geht

Der Grünen-Politiker Cem Özdemir war der erste Bundestagsabgeordnete türkischer Abstammung. Nun hat er ein Buch über die Türkei geschrieben, in dem er jungen Deutschen und Deutschtürken erklären will, warum bestimmte Dinge sind, wie sie sind. Das Buch heißt „Die Türkei. Politik, Religion, Kultur“, und im Prinzip geht es um nichts weniger, als die Welt mit den Augen des anderen zu sehen, um etwas zu kapieren.

Seine These: Nur wer die Türkei versteht, kann auch die Deutschtürken verstehen. Das meint zunächst Schwaben, deren Eltern nicht aus Anatolien stammen wie jene des Autors. Es meint aber auch in Deutschland geborene Deutschtürken, die letztlich auch nicht wissen (können), wie die Türkei tickt. Die in der Türkei lebenden Türken wissen es ja selbst nicht. Es versteht sich, dass Özdemir, 43, eine starke Legitimation für so ein Buch hat – als aufgeklärter Muslim, Schwabe, Kreuzberger, Sohn türkischer Arbeitsmigranten der ersten Generation; Mutter aus Istanbul, Vater aus einem tscherkessischen Dorf nordöstlich von Ankara.

Das Buch selbst klingt stellenweise nach Lexikon, stellenweise nach Schulbuch, manchmal erzählt Özdemir von Leuten, die er kennt, und manchmal auch von sich. Durch wenige biografische Einsprengsel wird klar, dass auch er im schwäbischen Bad Urach keine diskriminierungsfreie Kindheit hatte. Die Icherzählung setzt er aber sehr sparsam ein, das Ich bleibt blass, selbst wenn er von seiner Beschneidung berichtet.

Absicht? Ja, sagt er beim Hintergrundgespräch in einem Berliner Kulturkaufhaus. „Das ist nicht die Geschichte oder die Meinung Cem Özdemirs über die Türken, sondern die Klärung der Frage: „Warum ticken die so?“ Der Blick auf die Türkei in Deutschland sei geprägt von dem Blick auf die 2,5 Millionen Deutschtürken und dadurch verengt. Andererseits: Was wisse seine Tante in Izmir vom Leben in Deutschland? Nichts. So handelt Özdemir nach dem „Sendung mit der Maus“-Prinzip die Basics der türkischen und deutschtürkischen Geschichte und Gesellschaft ab (die längst nicht alle gebildeten deutschen Erwachsenen draufhaben). Er erklärt die Rolle der Musik und des Dorfideals gegen die Zumutungen der Moderne und breitet das kulturelle Spektrum aus, über Orhan Parmuk und Tarkan hinaus. Selbstverständlich handelt er auch alle brisanten Themen ab: das Kopftuch, die Kurden, der Genozid an den Armeniern, die Rollen von Frau und Mann, der Hass auf Homosexuelle, die Gespaltenheit der Gesellschaft, deren laizistische Elite auch argwöhnt, die konservativ-islamisch lebenden Mitbürger seien alle Islamisten. Die Frage, wie der „richtige Türke“ zu sein habe, entscheide jeder selbst, sagt Özdemir. Sein Buch sei ein „Plädoyer für eine multikulturelle Gesellschaft der Türkei.“

Während Springers Welt aufgeregt stöhnt, jedes Kapitel des EU-Abgeordneten und EU-Beitrittsbefürworters enthalte „Sprengstoff“, dürfte die Claudia-Roth-menschenrechtsgeprägte Stammkundschaft Özdemirs teilweise eher indigniert sein, wie entspannt Özdemir bleibt. Etwa wenn er über die Zwangsehe lapidar feststellt: „Leider gibt es auch heute noch […] mehr oder weniger heiratswillige Kandidaten, die sich bei dieser Gelegenheit [dem Ritual des Um-die-Hand-Anhaltens; die Red.] zum ersten Mal sehen.“ Zu lasch formuliert? Auf diese Nachfrage hin verweist er noch mal auf das Prinzip des Buchs: verstehen, nicht anklagen.

Er selbst findet im Übrigen, „dass die Liebesheirat der anderen überlegen ist“. Seine Ehe sei nicht arrangiert worden. Ob das (auch) ironisch gemeint ist – schwer zu sagen. Das Buch ist jedenfalls von großer Nüchternheit.

Letztlich sind es doch die persönlichen Einblicke, die besonders aufschlussreich sind. Etwa wenn Özdemir erzählt, dass ihm als Kind bei schlechten Noten gedroht wurde, in ein Internat in der Türkei gesteckt zu werden. Eine „Keule“ sei das gewesen, die ihm den Boden unter den Füßen weggezogen habe. „Meine Eltern sagen heute, das hätten sie nie gemacht. Ich hoffe es für sie.“

Andere Spitzenpolitiker bringen sich in diesen Wochen mit großen oder auch nicht so großen Entwürfen in Position, um ihre Partei zu inspirieren, zu reformieren oder gar zu retten. Özdemir, vor der Wahl zum Parteivorsitzenden, kommt mit einem Jugendbuch. Schlechtes Timing? Nein, sagt er, gar kein Timing. Das eine habe mit dem anderen nichts zu tun. Eine Literaturagentin gewann ihn für das Projekt. Das war, lange bevor ihn das Netzwerk der grünen Reformer Richtung Parteivorsitz schubste. „Dieses Buch ist nicht primär für Leute, die sich für den Parteivorsitzenden Özdemir interessieren“, sagt er. Ob seine jungen Nachbarn vom Kottbusser Tor in Berlin-Kreuzberg das Buch lesen werden? Oberstufengymnasiasten vielleicht eher. Aber das wäre ja auch schon was. PETER UNFRIED

Cem Özdemir: „Die Türkei. Politik, Religion, Kultur“. Beltz Verlag, Weinheim 2008, 256 Seiten, 19,90 Euro