Schweigen ist Tod, Krach ist Leben

Atemberaubend einfallsreiche musikalische Kosmopoliten: Die New Yorker Klezmer-Neuentdecker „The Klezmatics“ feiern am Montagabend in der Fabrik ihr zwanzigjähriges Bestehen mit einer großen Retrospektive

Der Tod und das Leben, das Schweigen und der Lärm. Innerhalb dieser Koordinaten liegt das Universum der New Yorker „Klezmatics“. „Shvaygn = TOYT“ – eine jiddische Übersetzung des Slogans „Silence = Death“ der schwul-lesbischen Anti-Aids-Kampagne „Act Up“ – heißt schon das Debüt-Album, mit dem die Band, die Trompeter Frank London um sich geschart hat, Ende der 80er international für Furore sorgte.

Anders als bei den meisten anderen Bands des damaligen Klezmer-Revivals nämlich, die sich vor allem um eine Rekonstruktion der von der Shoa vernichteten Tradition bemühten, brachten die New Yorker in ihrer Interpretation der Bulgars, Shers und Freylekhs, der klassischen Klezmer-Tänze, die musikalische Sprache der aus Osteuropa ausgewanderten Eltern und Großeltern mit den zeitgenössischen kosmopolitischen Klängen der Stadt am Hudson River und ihren eigenen musikalischen Vorlieben zusammen. Vor allem Jazz und freie Improvisation kommen dazu, aber auch Psychedelisches, Hip-Hop-, Ska-, Punk- oder Rockeinflüsse. Ausgiebig arbeiten die „Klezmatics“, allesamt atemberaubend versierte und einfallsreiche MusikerInnen, mit Avantgardisten aller Genres und Kulturen wie Mahmoud Fadl, Ben Folds, Neil Sedaka, Marc Ribot oder Värttina zusammen.

Gerade mit dieser Aufgeschlossenheit und Neugier in der Wahl der musikalischen Idiome stehen die „Klezmatics“ indes direkt in der Tradition der Klassiker des Klezmer 20. Jahrhunderts. Auch Naftule Brandwein oder Dave Tarras taten nicht wirklich etwas anderes, als sie ihre heute als klassisch geltenden Stücke schrieben: sie brachten die osteuropäische jüdische Musik ihrer Zeit mit den vielfältigen zeitgenössischen musikalischen Sprachen und Spielweisen Amerikas zusammen.

Charakteristisch für die „Rolling Stones des Klezmer“ ist neben ihrem musikalischen Kosmopolitismus aber auch die Auswahl des Repertoires. Viele Lieder stammen aus dem Chassidischen, handeln von Mythischem und Religiösem, von Alltäglichem wie Liebe, dem Feiern oder der Sorge ums Geld. Dabei geben die „Klezmatics“ der Tradition bei der Wiederbelebung gern einen kleinen Twist: Statt des Alkohols wird da schon mal Marijuana als „Gots beste trayst“, Gottes bester Trost, angepriesen oder deutlich gemacht: „Un mir zaynen ale freylekh / Vi Yoynoson und Dovid hamelekh“ – „Und wir sind alle fröhlich / schwul / wie Jonathan und König David“.

Immer wieder kramen die „Klezmatics“ bislang unbekannte traditionelle jiddische Lieder aus, setzen sie in einen neuen Kontext und machen sie so wieder lebendig. Oder sie erwecken die totgeglaubte jiddische Sprache mit Liedern zeitgenössischer jiddischer Poeten wie Michael Wex wieder zum Leben.

Eine Herzensangelegenheit ist den „Klezmatics“ auch immer wieder der Kampf für soziale Gerechtigkeit und tikkun olam, die Heilung der Welt. Lieder aus der jüdischen Arbeiterbewegung des Russischen Reichs oder aus dem Nordamerika der 20er besingen den jüdischen Kampf um Gleichberechtigung und gegen die Unterdrückung.

Im letzten Jahr haben die „Klezmatics“ wieder eine musikalische Goldkiste geöffnet: „Wonder Wheel“ enthält Vertonungen 1998 entdeckter und nie aufgenommener Texte der Folk-Ikone Woody Guthrie. Dafür können sich die Gay-and-Lesbian-American-Music-Award- und German-Critics-Award-Gewinner nun auch noch einen Grammy für das beste zeitgenössische Weltmusikalbum ins Regal stellen.

Zum Jubiläum hat die Band jetzt eine große Retrospektive mit den besten Stücken „der ersten 20 Jahre“ vorgelegt. Nicht mehr Schweigen ist Tod, sondern „Tuml = LEBN“ heißt es, Krach ist Leben. Wie wahr das ist, davon kann man sich morgen Abend in der Fabrik überzeugen. Und danach hoffen, dass da noch mal 20 Jahre kommen mögen.ROBERT MATTHIES

So, 26. 10., 21 Uhr, Fabrik, Barnerstraße 36