in fußballland
: Das dunkle Königreich

CHRISTOPH BIERMANN über den englischen Fußballklub FC Millwall und den dort wohnenden Zauber des Bösen

Christoph Biermann, inzwischen 43, liebt Fußball und schreibt darüber

Ich wollte einen Freund im Südosten von London besuchen, wo ich zuvor nicht gewesen war. Doch als ich in New Cross den Bus verließ, war ich entsetzt. Die Häuser waren in einem verheerenden Zustand, die Straßen voller Müll, und einige Schritte von der Haltstelle entfernt brannte eine Öltonne, an der sich Jugendliche wärmten. Es sah aus wie der Drehort für ein HipHop-Video, nur ohne jeden Zauber – und Angst lag in der Luft.

Es war bereits dunkel, und bereits nach wenigen Schritten brach ich meinen Besuchsversuch ab und ging zur nächsten S-Bahn-Station. Ich bin nicht sonderlich mutig, und in diesen Straßen mochte ich die Adresse nicht suchen. Mit meiner Angst war ich nicht allein, auf dem Bahnsteig rückten die Fahrgäste entgegen allen sonstigen Gewohnheiten zusammen wie eine Horde Schafe, die sich von Wölfen umkreist fühlt. Obwohl nichts passierte, atmete ich erst wieder auf, als der Zug losgefahren war.

Fast alle Profiklubs in London habe ich bei meinen Besuchen im Laufe der Jahre spielen sehen. Ich war nicht nur bei den Großen von Arsenal, Chelsea, Tottenham oder West Ham, sondern auch bei den Verlierern von Leyton Orient oder dem netten FC Brentford. Ich sah Spiele der Queens Park Rangers im Stadion an der Loftus Road und verbrachte sonnige Nachmittage beim FC Fulham, als er noch ein vergessener Drittligist war. Nur zum FC Millwall schaffte ich es nie. Keiner meiner Freunde legte gesteigerten Wert darauf, mich zu dem Klub zu begleiten, dessen Stadion unweit der Haltestelle ist, von der ich vor anderthalb Jahrzehnten so eilig geflohen war.

Die ausgesprochen lesenswerte österreichische Fußballzeitschrift Ballesterer hat dem FC Millwall neulich ein 25-seitiges Special gewidmet. Das ist zunächst einmal verblüffend, weil der Klub nie einen Titel gewonnen und gerade zwei Spielzeiten in der höchsten Klasse verbracht hat. Doch Millwall ist das dunkle Königreich des Fußballs, der Klub steht für die Unterseite aller Emotionen, die an dem Spiel hängen, und für die Vergangenheit des Spiels.

Weltberühmt ist der Klub mit dem brüllenden Löwen im Wappen wegen der Gewalttätigkeit seiner Fans. In Millwall gab es schon Hooliganismus, als man das noch nicht so nannte, und schlimmste Ausformungen von Fußballgewalt, als sie Mode wurde. Noch vor knapp zwei Jahren wurden bei Ausschreitungen 47 Polizisten und 26 Polizeipferde verletzt. 1985 gingen Bilder aus Luton um die Welt, als Fans aus Millwall nach einer Pokalniederlage das Viertel um das Stadion verwüsteten. Bereits 1920 erlebte der Klub im eigenen Stadion seine erste Platzsperre. Wenn der FC Millwall eine Spur hinterlassen hat, ist es eine blutige.

Die Hymne der Anhänger heißt „No one likes us – we don’t care“ und wird nach der Melodie von Rod Stewarts „Sailing“ gesungen. Diese Selbststigmatisierung ist keine leere Pose. Es mag sie wirklich niemand, so bedingungslos loyal sie auch sein mögen. Rassismus auf den Rängen gehörte hier immer dazu, und wer sich nach Millwall begab, hatte stets das Gefühl, „uneingeladen auf einer Party zu erscheinen“, wie Ballesterer schreibt.

Das alte Stadion lag am Cold Blow Lane, dem Weg des Kalten Hauchs; es hieß „The Den“, die Höhle der Löwen. Inzwischen gibt es einen „New Den“ einige hundert Meter weiter, der nicht mehr so bedrohlich finster wie das alte Stadion ist, und der Klub müht sich seit langem vorbildlich gegen den Rassismus und die Gewalttätigkeit seiner Fans. Auch die sozialen Strukturen im Viertel haben sich geändert, doch der Klub des weißen Lumpenproletariats und die Heimat aggressiver Männlichkeit ist der FC Millwall geblieben.

Man spürt in den Beiträgen von Ballesterer neben dem Bedürfnis einer Trennung von Mythos und Wirklichkeit auch den Zauber des Bösen. Der neue Fußball des kommerzialisierten Zeitalters hat diese Seite des Spiels zu kappen versucht, die zweifellos zu seinen Wurzeln gehört. Der FC Millwall ist die lebende Erinnerung daran geblieben. Doch auch heute drängt es mich nicht, es endlich dorthin zu schaffen.