Der faule Verbraucher

Die Energiekonzerne können noch immer wie Monopolisten agieren – weil kaum jemand von der Möglichkeit Gebrauch macht, seinen Stromanbieter zu wechseln

Strom ist selbstverständlich, keiner denkt über ihn nach. Er ist einfach da und kommt aus der Steckdose

Der Strommarkt kommt nicht in die Gänge – schuld daran sind vor allem die Verbraucher, die ihre Wahlfreiheit nicht nutzen. 96 Prozent der privaten Stromkunden ignorieren den liberalisierten Markt konsequent. Unwahrheiten, Halbwahrheiten, Inkonsequenz prägen die Debatte über den Strommarkt. In kaum einem anderen Wirtschaftszweig sind Scheinargumente und künstliche Aufgeregtheit so präsent wie in der Strombranche.

Doch reden wir heute einmal nicht über die einschlägigen Konzerne. Nicht über die Unternehmen, die ihre Preise erhöhen, um ihre Marge aufzubessern – und gleichzeitig so dreist wie falsch die Windkraft als Schuldige benennen. Auch nicht über die Netzbetreiber, die faktisch noch immer über ein Monopol verfügen und dieses schamlos ausnutzen, indem sie von Mitbewerbern überhöhte Durchleitungsgebühren kassieren.

Nein, reden wir heute einmal über die Stromkunden. Über die privaten Verbraucher. Über diejenigen, die in Umfragen immer ihre Vorliebe für die erneuerbaren Energien bekunden, die zugleich aber zu träge sind, ihren Atomstrom zu kündigen. Und auch über diejenigen, die sich – gerade zum Jahreswechsel wieder – über steigende Strompreise ihres Exmonopolisten beklagen, es aber gleichwohl nicht schaffen, zu einem anderen Anbieter zu wechseln.

In Zahlen: Wir reden über 96 Prozent der deutschen Bevölkerung. Denn fünfeinhalb Jahre nach der Liberalisierung des Strommarktes machen erst 4 Prozent der Haushalte von der Freiheit Gebrauch, sich den Produzenten ihres Stroms selbst auszusuchen. Und die Zahl stagniert. Anders ausgedrückt: Unter 25 privaten Stromkunden ist statistisch nur einer, der sich bisher aufraffen konnte, seinen Strom dort einzukaufen, wo er ökologischer erzeugt und/oder billiger angeboten wird als beim angestammten Exmonopolisten.

Die Konsequenzen dieser Trägheit werden zunehmend deutlich: Die Privatkunden werden von den alteingesessenen Anbietern als mündige Marktteilnehmer kaum noch ernst genommen. Fast ist man wieder in jener Welt angelangt, in der Stromkunden noch Abnehmer hießen; in der die Monopolisten gegenüber den Verbrauchern behördengleich auftraten und Stromrechnungen verschickten im Outfit von Steuerbescheiden.

Die Verbraucher haben es sich selbst zuzuschreiben. Denn in einem Markt, dem sich 96 Prozent der Kunden verweigern, kann unmöglich ein Wettbewerb entstehen. Und das nutzen – was nur logisch ist – die alteingesessenen Anbieter aus. Sie erhöhen die Preise, weil sie wissen: Kaum ein Kunde wird deswegen zu einem Mitbewerber wechseln. Unbekümmert bieten sie zudem ihren Dreckmix von Atom- und Kohlestrom an, weil sie gleichermaßen darauf zählen können, dass die Bürger viel zu träge sind, sich eine Alternative zu suchen.

Und die Kunden? Sie jammern – doch das ist scheinheilig. Denn glaubwürdig kann sich nur beschweren, wer selbst seinen Versorger gewechselt hat. Wer noch immer von einer Atomfirma seinen Strom bekommt (übrigens sind inzwischen viele Stadtwerke mit Atomstromern verbandelt!), ist für die Ökoschweinereien der Konzerne mit verantwortlich. Und wer es noch immer nicht geschafft hat, sich einen neuen Anbieter zu suchen, darf auch nicht über Preiserhöhungen lamentieren.

Da inzwischen beides sogar gleichzeitig geht – Ökostrom kaufen und dabei Geld sparen –, sollte die Entscheidung doch eigentlich leicht fallen. Jawohl, so ist es: Manche Ökostromanbieter sind inzwischen billiger als viele der ehemaligen Monopolisten. Der Preisvergleich, etwa per Internet, kostet kaum drei Minuten Zeit.

Doch die deutschen Stromkunden wollen einfach nicht. Sie lassen den liberalisierten Strommarkt an sich vorüberziehen wie einen schlechten Film. Sie haben schließlich anderes zu tun. Sie wechseln munter ihren Handy-Anbieter, schließen nebenbei einen neuen Auto-Leasing-Vertrag ab und sammeln beim Einkauf Rabattpunkte an jeder Ecke – denn sie wollen schließlich überall gute Qualität zum günstigen Preis. Nur wenn es um den Strommarkt geht, benehmen sich die Menschen wie ein Rudel altersschwacher Schoßhunde: Nur nicht bewegen.

Schuld sind auch die Medien, die mitunter den Bürgern den Stromwechsel verleiden. Sie tun es, indem sie Hürden beschreiben, die es faktisch nicht gibt. Jüngstes Beispiel: die Stuttgarter Zeitung. „Liberalisierung ist gescheitert“, war auf der Titelseite zu lesen.

„Allzu undurchsichtig ist das Tarifwirrwarr“, liest man dort. Und beginnt zu rätseln: Ob die Kollegen wohl versehentlich in die Telefontarife verrutscht sind? Dorthin, wo es Sonntags- und Werktagspreise gibt, wo der Tag unzählige Zeitzonen kennt, wo es verschiedene Entfernungsbereiche gibt, diverse Abrechnungstakte, mitunter eine zusätzliche Gebühr für den Verbindungsaufbau und auch noch unterschiedliche Mengenrabatte und Freiminuten? Von Auslandstarifen ganz zu schweigen? Nein, den Strom kann sie nicht gemeint haben. Schließlich gibt es dort für jedes „Produkt“ nur einen monatlichen Grundpreis und für jede verbrauchte Kilowattstunde einen so genannten Arbeitspreis. Simpler geht’s wirklich nicht.

Der Wechsel des Stromanbieters ist inzwischen zu einer durchaus durchschaubaren Angelegenheit geworden. Man trägt seine Adresse in ein Formular ein, gibt seine Kontonummer an und schickt das Ganze unterschrieben mit einer Kopie der letzten Stromrechnung an den Lieferanten seiner Wahl. Mehr will der gar nicht wissen – und regelt dann den Rest. Wo also ist das Problem? Es liegt einzig und allein in den Köpfen und heißt schlicht Desinteresse. Denn der Strom ist so selbstverständlich, dass kaum jemand über ihn nachdenkt. Er ist einfach da und kommt aus der Steckdose.

Privatkunden werden von den Anbietern als mündige Marktteilnehmer kaum noch ernst genommen

Er ist, wie es im Marketingdeutsch so schön heißt, ein „Low-Interest-Produkt“. Und zwar, weil er ein „Low-Cost-Produkt“ ist. Denn Strom war in Deutschland nie so günstig zu haben wie in den vergangenen Jahren. Daran ändert auch der jüngste Preisanstieg nichts. Zweiflern sei gesagt: Gemessen am Einkommen war der Haushaltsstrom in Deutschland vor zwanzig Jahren noch doppelt so teuer wie heute. In den Sechzigerjahren kostete er sogar noch das Vierfache.

Dass nun in diesen Wochen Verbraucher und einige Verbände über vermeintlich hohe Strompreise jammern, gehört auch zu den Ungereimtheiten der Stromdebatte. Zumal im Jahr 2003 der Stromverbrauch in Deutschland gegenüber dem Vorjahr nochmals um 2 Prozent gestiegen ist. Auf einen neuen Rekordstand. Und das in einem Jahr, das wirtschaftlich angeblich so krisengeschüttelt war. Wäre Strom tatsächlich so teuer, wie mancher Konsument in diesen Wochen tönt, so würde der Verbrauch längst zurückgehen.

Doch er tut es nicht. Weil Strom hierzulande nichts wert ist. So wertlos, dass 96 Prozent der Bürger sich den Luxus leisten, keinen Gedanken auf ihre Stromversorgung zu verwenden.

BERNWARD JANZING