Action statt Klatschen

Mit Powerpoint, Maskentanz und Orff’schen Instrumenten stimmt die „Glocke“ das Nachwuchspublikum auf ihre Konzerte ein

„Dass Kinder stillsitzen, ist sicher nicht der richtige Weg“

„Wenn Kinder Sportarten lernen, spielen sie Fußball oder bekommen einen Tennisschläger in die Hand. Wenn wir sie allerdings mit Musik vertraut machen wollen, erwarten wir, dass sie stillsitzen. Das ist sicher nicht der richtige Weg.“ Simon Rattle, Chefdirigent der Berliner Philharmoniker, hat klare Vorstellungen über das notwenige Maß an Aktivität, wenn der Nachwuchs mit klassischer Musik vertraut werden soll. Derzeit versucht der Brite, seine Vorstellungen von einer aktionsorientierten Konzertpädagogik in der deutschen Hauptstadt zu verbreiten – während Bremen das Glück hat, dass hier schon seit geraumer Zeit entsprechend experimentiert wird.

Als Zuzana Pesselová vor vier Jahren mit der „Glocke“-Nachwuchsförderung beauftragt wurde, war ihre Stelle in der deutschen Konzerthaus-Landschaft sogar einzigartig. Seitdem hat sie nicht nur „Familienkonzerte“ organisiert, sondern, zusammen mit meist studentischen Helfern, auch die „Ohrwurm“-Reihe für Kinder zwischen 10 und 12 Jahren entwickelt.

Äußerlich betrachtet folgt man dabei dem „Prinzip Kindergottesdienst“: Während die Erwachsenen den ersten Teil eines Konzerts hören, erarbeiten die Kinder, angeleitet von Schauspielern und Musikern, spielerische Zugänge zum Programm der zweiten Hälfte – dem man dann gemeinsam lauscht.

Das Thema der zwölften „Ohrwurm“-Aktion am Montagabend: Béla Bartóks Konzert für Orchester, beziehungsweise „Bartók Bélas“ Konzert, wie man sogleich von Florian Ludwig lernen kann. Der Dirigent gibt 22 Kindern per Powerpoint-Präsentation Einblicke in Leben und Werk. „Die Ungarn stellen ihre Familiennamen nach vorne“ – klick –, erfahren die Kinder, die dann allerdings – klick, klick, klick – auch mit Begriffen wie „Exil“, „Etude“ oder „entartet“ fertig werden müssen. Aber der Vortrag ist nicht lang und der Abend voller Medienwechsel: SchauspielerInnen der Shakespeare Company stimmen mit einem Maskentanz auf die Thematik Frust und Glücksgefühl ein (Bartók komponierte das Konzert ein Jahr vor seinem Tod unter schwierigsten Umständen), dann bringen sie die Kinder mit szenischen Aufwärmspielen in Fahrt. Am Schluss gibt’s einen ungarischen Volkstanz zur Bartók-Musik – derweil haben die Erwachsenen nebenan höchstens mal ihre Hände bewegt.

In England sind selbst die renommiertesten Orchester – auch wegen wegbrechender öffentlicher Finanzierung – schon lange dazu übergegangen, „education work“ zu betreiben. Und das auch außerhalb der eigenen erhabenen Hallen: in Seniorenzentren, Behinderteneinrichtungen und Gefängnissen. So weit gehen die Bremer Ambitionen offenbar nicht, doch das inhaltliche Konzept ist in der Tat von britischen Vorbildern inspiriert.

Grundprinzip: die Selbsttätigkeit der Kinder. Also keine textlastigen Einführungen; musikalisches Material wird nicht nur vorgestellt, sondern auch nachgespielt und zu eigenen Stückchen weiterentwickelt. Ein ambitioniertes Programm, das auch den begleitenden Eltern Aufmerksamkeit abverlangt, wenn sie sich nicht vertrommeln wollen. Als handfestes Problem – neben dem sakralen Ambiente des kleinen „Glocke“-Saals, der mit seiner dunkelbraun getönten Vertäfelung und den elektrischen Wandkerzen auch als Vortragsraum eines Beerdigungsinstituts durchgehen würde – erweist sich, dass es im Haus derzeit keine Matineen gibt. Die Kinder können sich also, wie jetzt am Montagabend, erst um halb elf auf den Nachhauseweg machen.

Und: Sie kommen überwiegend aus kulturell ohnehin engagierten Elternhäusern. Gibt es Wege aus dem bildungsbürgerlichen Ghetto der Konzertpädagogik? Verstärkte Zusammenarbeit mit Schulen und den beiden Bremer Orchestern sei erforderlich, sagt Pesselová. Die Kammerphilharmonie ist mit der „Response“-Reihe bereits pädagogisch engagiert, auch bei den sich neu orientierenden „Bremer Philharmonikern“ gäbe es Interesse. Entscheidende Voraussetzung für eine engere Zusammenarbeit wird allerdings sein, ob die MusikerInnen ihren pädagogischen Einsatz als reguläre „Orchesterdienste“ abrechnen können – wie es etwa beim Royal Scottish National Orchestra längst der Fall ist, sogar mit höherer Vergütung als bei Konzerten.

Wie notwendig ein solches Engagement ist, wird sinnfällig, als die „Ohrwurm“-Kinderschar nach der Pause in der grau dominierten Menge der übrigen Konzertbesucher eintaucht – und hoffnungslos untergeht. Henning Bleyl

Die nächsten „Ohrwürmer“ – die auch unter dem Namen „Unplugged“ firmieren – finden am 1. Mai und 2. Juni statt. Karten (8 Euro inkl. Konzertkarte) unter ☎ (0421) 33 66 99