Debattieren wie die Großen

Argument und Gegenargument. Beim Berliner EU-Jugendkonvent erarbeiten Oberstufenschüler den Entwurf für eine gemeinsame europäische Verfassung. Artikel für Artikel wird Europa durchgekaut

von AGNES CIUPERCA

„Die Zettel müssen mit ausgestrecktem Arm hochgehoben werden, sichtbar und richtig rum“, ermahnt Präsident Heinz Gies die Abgeordneten zur Disziplin. Etwa 130 Oberstufenschüler rutschen unruhig auf ihren Sitzen und stöhnen. „Sollen wir den Absatz über das Abfallmanagement rausnehmen? Wer stimmt mit Ja?“, fragt der Präsident die Jugendlichen, die hier an der Verfassung der Europäischen Union basteln. „Wer stimmt mit Nein?“ Müde heben die Schüler ihre orangefarbenen Zettel in die Höhe, auf denen große schwarze Zahlen von 1 bis 130 prangen. „Der Absatz bleibt drinnen“, ergibt die Auszählung.

Seit September tagt der Berliner Jugendkonvent nach dem Vorbild des EU-Konvents in Brüssel, der eine Verfassung für Europa ausarbeitet. Im November haben sich die Schüler zum ersten Mal getroffen und ihr Präsidium gewählt. Seitdem haben sie in fünf Arbeitsgruppen die einzelnen Verfassungspunkte erarbeitet. Am Montag legten die AGs beim zweiten und abschließenden Plenum ihre Papiere zu den Themen Umwelt und Ernährung, Arbeits- und Sozialpolitik, Migration, Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik und zur Reform der EU-Institutionen zur Abstimmung vor.

Das Übungsparlament für die Jugendlichen wird von der Europäischen Kommission, dem EU-Parlament und dem Kinder- und Jugendfreizeitzentrum (FEZ) Wuhlheide unterstützt. Die Idee zu einem Jugendkonvent entstand, als Valéry Giscard d’Estaing, der Präsident des EU-Konvents, in einer Rede junge Menschen zur Beteiligung an der Debatte aufrief.

Ähnlich wie in der großen Politik werden auch beim Jugendkonvent Argumente gegeneinander abgewogen, bevor die Abgeordneten abstimmen. Und genau wie in der großen Politik gibt es auch hier Abgeordnete, die sich besonders engagieren. „Manche haben sich richtig reingehängt, andere hören sich nur an, was ihre Mitschüler gearbeitet haben“, sagt Malte Lenz, Koordinator des Jugendkonvents. Er hat im Sommer etwa 170 Schulen in Berlin angeschrieben und ihnen das Projekt vorgestellt. Elf Oberstufen schickten Vertreter in den großen Theatersaal des FEZ. Im kommenden Herbst soll ihr Verfassungsentwurf als Vorschlag an den EU-Konvent übergeben werden. Ob er in das endgültige Gesetzeswerk einfließen wird, wissen aber nicht einmal die Veranstalter.

Die Jugendlichen kümmert das noch nicht – zunächst müssen sie sich einig werden. Wer jetzt noch Verbesserungsvorschläge hat, muss in eins der aufgestellten Saalmikrofone sprechen. Die Nummer 33 streckt ihren Zettel hoch und wird auf die Rednerliste aufgenommen: „Ich will wissen, was ‚nicht eigenständig lebensfähig‘ heißt.“ Katharina Pankoke, Sprecherin der AG Umwelt, verteidigt ihren Entwurf zu den Grenzen der biologischen Forschung: „Wir wollen keine neuen Menschen züchten, aber eine Leber könnte man durch Klonen herstellen. Die wäre außerhalb des Körpers nicht lebensfähig.“ Nummer 33 will dagegenhalten: „Behinderte sind teilweise auch nicht eigenständig lebensfähig.“ Ein Raunen geht durch den Raum.

Auch bei der künftigen Migrationspolitik der EU finden die Jugendlichen genug Gelegenheit zum Einspruch. „Das Konzept ist noch nicht durchdacht. Ich kann doch nicht politischen Flüchtlingen Schutz, Sprachkurse und gesellschaftliche Integration bieten und sie, wenn der Konflikt in ihrem Land beendet ist, wieder zurückschicken“, bringt die 17-jährige Karolin Freiberger vor. Für die EU interessiert sie sich, seit sie das Thema im Leistungskurs Politik hatten. Sie kann sich auch vorstellen, später Politik zu studieren. „Beim Jugendkonvent habe ich mein Interesse etwas aufgefrischt“, sagt die Diskussionsfreudige.

Wie bei Politprofis ist der Terminplan bereits nach den ersten zwei Gruppen hoffnungslos überzogen. Je mehr diskutiert wird, desto lustloser wird die Stimmung vor allem bei den weniger engagierten Schülern. Erst am späten Nachmittag haben alle Arbeitsgruppen ihre Entwürfe vorgestellt und diskutiert.

„Ich weiß nicht, ob unser Entwurf große Auswirkungen auf den EU-Konvent hat“, seufzt Karolin Freiberger. Trotzdem glaubt sie, dass der Jugendkonvent mit seinen Ideen und Visionen ganz auf der EU-Linie ist.