Auf der Spur der Goldkröte

Die „sechste große Aussterbewelle in der Geschichte des Lebens“ hat gerade erst begonnen. Biologen warnen nun vor einem drastischen Artenschwund

VON MATTHIAS URBACH

Die Amphibienforscher waren begeistert. In den Sechzigern entdeckten sie in den Nebelwäldern von Costa Rica eine neue Kröte. „Außergewöhnlich“, schrieben sie, „die Männchen leuchten in unglaublich hellem Orange.“ Golden Toad, Goldkröte, wurde das fünf Zentimeter kleine Tier genannt, das in der Brutzeit zu tausenden im Schutzgebiet des Monteverde-Nebelwaldes anzutreffen war. Doch 1988 fanden die Forscher nur noch zehn erwachsene Männchen. Im Jahr darauf war es nur noch eines – heute gilt die Kröte als ausgestorben.

Die Goldkröte ist nur eine von vielen Arten, die derzeit vom Erdboden verschwinden – in einer Aussterbewelle, die der amerikanische Biologe Stuart Chapin als „die sechste große Aussterbewelle in der Geschichte des Lebens“ bezeichnet. Doch während bisher vor allem Waldrodung, Umweltgifte und Zersiedelung als Hauptursachen dieser von Menschen verursachten Tragödie im Vordergrund standen, erwischte es die Goldkröte an einem Ort, an dem sie nach heutigem Verständnis eigentlich als besonders sicher gilt: in einem Wildreservat. Sie verschwand nach einer bislang beispiellosen Dürre in dem Nebelwald, wo sich der Nebel seit einiger Zeit in immer größere Höhen zurückzieht. Damit ist sie eine der ersten Arten, deren Verschwinden augenscheinlich mit einer anderen Bedrohung zusammenhängt: dem Klimawandel.

Wie eine neue Studie zeigt, die heute im Wissenschaftsjournal Nature veröffentlicht wird, ist die Goldkröte ein Menetekel für eine neue Bedrohung der Artenvielfalt. Diese könnte die bisherigen Gefahren schon bald in den Schatten stellen. „Im Gegensatz zu früheren Abschätzungen ist es wahrscheinlich, dass der Klimawandel die größte Bedrohung in den meisten, wenn nicht in allen Regionen der Erde ist“, heißt es in der Studie. Die Autoren sind 19 Biologen aus Großbritannien, den Niederlanden, Australien, Südafrika, Brasilien, den USA und Mexiko. Sie untersuchten 1.100 Arten von Pflanzen, Säugetieren, Vögeln, Reptilien, Amphibien sowie Schmetterlingen und einigen anderen wirbellosen Tieren. Schauplätze ihrer Forschungen waren sechs artenreiche Regionen, darunter die Urwälder Australiens und Brasiliens, aber auch die vogelreichen Gebiete Europas.

Bis 2050 sagen die Modelle der Klimaforscher eine mittlere Erwärmung von 1,8 bis 2 Grad Celsius voraus. Für diesen Fall kommen die Biologen um den Artenschutzexperten Chris Thomas von der Universität Leeds zu dem Schluss, dass 15 bis 37 Prozent aller Arten bis 2050 dem Aussterben geweiht sein könnten. Dabei geht die niedrigere Zahl davon aus, dass die bedrohten Arten in andere Klimazonen ausweichen können, während die höhere Zahl den Fall beschreibt, dass dies in der Regel nicht gelingt. Die Wahrheit, so die Forscher, dürfte irgendwo in der Mitte liegen. Somit könnten in absehbarer Zeit ein Viertel aller untersuchten Tiere auf der Strecke bleiben. Auch wenn die Autoren betonen, dass sie nur ungefähre Schätzungen liefern können, so ist dies doch ein alarmierendes Ergebnis.

Die Bedrohung für die Tiere liegt nicht immer in der Temperatur selbst (siehe Text unten). Da aber einige Arten sehr wohl temperaturempfindlich sind, wird sich die Zusammensetzung der Ökosysteme häufig total ändern. Einige Tiere werden profitieren und in viele neue Gebiete eindringen, sich möglicherweise über ganze Kontinente ausbreiten und andere verdrängen, wie einst das Kaninchen in Australien. Anderen Arten könnte plötzlich die Nahrung fehlen. Für andere wiederum wird sich die bewohnbare Fläche so sehr verringern, dass sie den herkömmlichen Bedrohungen wie Zersiedlung nicht mehr widerstehen können.

Gerade bereits heute bedrohte Arten sind in Gefahr. In Europa etwa untersucht die Studie vor allem Vögel. So ist der Rotmilan längst auf besondere Schutzmaßnahmen und Naturparks angewiesen. „Wenn dann noch der Klimawandel hinzukommt“, erklären die Autoren, „ist seine Zukunft noch viel unsicherer.“ Der Klimawandel dürfte den Bestand der Rotmilane um mehr als die Hälfte verringern, urteilen die Biologen. Findet er durch die Zersiedelung keine Ausweichquartiere, könnten gar 86 Prozent aller Rotmilane verschwinden.

Ähnlich könnte es auch Vögeln wie dem Einfarbigen Star, dem Zitronenzeisig oder der Heckenbraunelle ergehen – sie alle rangieren unter den Top Ten der gefährdeten europäischen Vögel. Der Einfarbige Star wird nach den Schätzungen der Biologen mindestens 57 Prozent seines Bestandes einbüßen, sollte es mangels ausreichenden Klimaschutzes zu der prognostizierten Erwärmung von knapp zwei Grad bis 2050 kommen. Der Mangel an Ausweichquartieren könnte auch Vögeln wie dem Spanischen Kaiseradler stark zusetzen, dem das europäische Klima im Jahr 2050 im Prinzip eigentlich viel besser bekommen sollte als das bisherige. Boyd’s Winkelkopfagame, eine rund 16 Zentimeter braune Echse, die in den Tropenwäldern im Nordosten Australiens lebt, könnte nach den Erkenntnissen von Co-Autor Stephen Williams von der James Cook University in Queensland 90 Prozent ihres Lebensraumes verlieren, weil sie anders als andere Echsen ihre Körpertemperatur nicht anpassen kann.

Sind die Arten erst einmal dezimiert, ist es oft nur noch eine Frage weniger Jahrzehnte, bis sie verschwinden. Zudem nimmt die Klimaerwärmung auch nach 2050 weiter zu, selbst wenn die Weltgemeinschaft sofort reagieren sollte. Während die Autoren bei einer Erderwärmung von um die 1,3 Grad einen Verlust von um die 18 Prozent der Arten erwarten, sind es bei etwas mehr als 2 Grad schon 35 Prozent. Mehr Klimaschutz, erklärt Autor Chris Thomas, könne nach den Erkenntnissen seiner Studie hochgerechnet „eine Million Arten oder mehr vor dem Aussterben retten“.