Der Raum als Bildungserlebnis

„Kinder brauchen Orte, die inspirieren“ – und die ihre Wahrnehmung schulen: Die schwächliche pädagogische Qualität deutscher Kindergärten kann durch den „dritten Erzieher“ Raum verbessert werden. Traumlandschaften für Kinder am Beispiel eines umgebauten Parkhauses in Berlin-Kreuzberg

Die Kita-Realität ist von maroden Kommunalfinanzen bedroht

aus Berlin CHRISTOPH VILLINGER

Begeistert rast Milan mit seinem Plastikrenner die alte Autorampe hinab. „Noch mal“, ruft der 4-Jährige und schiebt sein Gefährt ächzend wieder nach oben. Neben ihm sitzt Anouk. Sie beobachtet fasziniert, wie eine Kugel nach der anderen zuerst die Murmelbahn hinabrollt und dann auf Nimmerwiedersehen ihre Reise die Rampe hinab antritt.

Der wunderbare Spielplatz ist eine alte Zufahrtsrampe für Autos – und der beliebteste Ort einer Kindertagesstätte (Kita) im Berliner Bezirk Kreuzberg. Ende der 80er-Jahre baute man anlässlich der Internationalen Bauausstellung ein leer stehendes Parkhaus in der Dresdner Straße um. Seitdem bietet das „Kinder-Park-Haus“ fast 150 Steppkes Platz zum Spielen und Toben.

Wie kann ein ehemaliger Abstellplatz für den Fetisch der mobilen Gesellschaft den Ansprüchen zwei- bis sechsjähriger Kinder genügen? Rund um den großen, mit Glas überdachten Innenhof haben die Architekten die Gruppenräume verteilt. Auf verschiedenen Ebenen wachsen Pflanzen. Unter den Stufen der frei stehenden Treppen bilden sich Nischen zum Verstecken für Piratinnen, Räubertöchter und Indianer. Kein Vergleich zu den oft sehr beengten Verhältnissen in privaten Kinderläden – oder zu der funktionalen Methode „vier Wände“ mancher öffentlicher Kindergärten.

Die positive Spannung des „Kinder-Park-Hauses“ als Gebäude ergibt sich aus seiner ursprünglichen Funktionalität, die – obwohl außer Kraft gesetzt – weiter erfahrbar bleibt. „Kinder brauchen Orte, die inspirieren“, sagt die 48-jährige Leiterin des „Kinder-Park-Hauses“, Gerda Wunschel. Die Räume müssen differenziert und anregend gestaltet sein – dann können Kinder umso intensiver ihre Wahrnehmungen und Erfahrungen entwickeln. Immerhin verbringen viele der Kleinen täglich bis zu zehn Stunden in der Kita.

Auch die große Bildungsstudie Pisa hat das Problem aufgezeigt: Ausgerechnet in der für die Lernentwicklung entscheidenden frühkindlichen Phase, also bis zum fünften Lebensjahr, ist das deutsche Bildungssystem am schwächsten. Für die Kurzen gibt es zu wenig Bildung, zu wenig Geld – und zu wenig Raum.

Gerda Wunschel versucht zusammen mit ihrer Erzieherkollegin Gisela Hermann in dem Buch „Erfahrungsraum Kita“ ihre Erfahrungen weiterzugeben. „Wie lassen sich ‚Null-acht-fünfzehn-Kitas‘ in anregende Orte für Kinder, Erzieherinnen und Eltern verwandeln?“, lautet ihre Frage. In dem praxisorientierten Band „von Pädagoginnen für Pädagoginnen“ nehmen die beiden immer wieder Bezug auf das „Kinder-Park-Haus“.

Die Raumfrage ist für Kindergärten so wichtig wie die Pädagogik selbst. Der Erziehungswissenschaftler Wolfgang Tietze hat für seine Studie „Wie gut sind unsere Kindergärten?“ (1998) die Bedingungen in über 100 deutschen Kindergärten untersucht – und dabei die Größe und Qualität der Orte als wesentliches Merkmal definiert. Nur ein Drittel der Kitas schnitt mit „gut“ ab. Auch räumlich seien Kitas zu oft Verwahranstalten, so Tietze. Gerda Wunschel dagegen lässt sich von den Erfahrungen der Pädagoginnen in der norditalienischen Stadt Reggio Emilia inspirieren.

Dort ist der Raum von zentraler Bedeutung. Er tritt als „dritter Erzieher“ auf und ergänzt das Wechselspiel zwischen Kindern und Erzieherinnen. Entsprechend ist auch keine starre Raumgestaltung vorgesehen – der Raum entwickelt sich mit den Kindern mit. Deshalb fragt die Berlin-Kreuzberger Kita-Leiterin: „Welche Art von Räumen brauchen Kinder, um sich in Kitas wohl zu fühlen? Wie können Räume Kinder anregen und verzaubern, welche lassen die Kinder gleichgültig oder lähmen sie gar?“ Ziel all dessen ist, „die Selbstständigkeit der Kinder zu fördern“.

Orientierungspunkte wie Farben und spezielle Objekte sind für Kinder wichtig. So kann zum Beispiel das Spiel von natürlichem Tageslicht und Schatten eine grundlegende sinnliche Erfahrung sein – die der zeitlichen Orientierung. In vielen Kindergärten ist diese Erfahrung weggeplant und zugebaut. Ein Waschraum lässt sich mit Hilfe von Licht, Farben und Spiegeln zu einem lebendigen Raum mit Planschbecken erweitern. „Kinder lieben nun einmal Wasserspiele, Plantschen und Matschen“, sagt Wunschel.

Seine ursprüngliche Funktionalität gibt dem „Kinder-Park-Haus“ seine Spannung

Auch die Kinder selbst stellen Fragen an ihre Räume. So ist es Milan besonders wichtig, wo er „hier klettern und springen kann“. Anouk sorgt sich, „wo die Puppen und Tiere wohnen“. Und Lea möchte auch mal „allein sein und träumen können“. Eine Mutter ist besonders von der transparenten Gestaltung der Räume angetan. Alle Gruppenräume haben eine räumliche Erweiterung zum Innenhof. Die Kinder und Erzieherinnen aus den unterschiedlichen Gruppen begegnen sich mehrmals täglich, kennen sich, wissen voneinander.

Dies „hat die praktische Konsequenz, seine Kinder bei Engpässen mit einem guten Gefühl mal in eine andere Gruppe geben zu können“, erklärt die Mutter – Kinder und Erzieherinnen erleben sich als Gemeinschaft unter einem Dach. Auch dass vor jedem Gruppenraum ein Bistro-Tisch mit ein paar Stühlen steht, gefällt ihr. „So ist die Abholsituation sehr entspannt“, und es gibt einen Ort für „Tür-und-Angel-Gespräche“ – den Austausch zwischen Eltern und Erzieherinnen. Zusätzlich gibt’s im Eingangsbereich der Kita ein Elterncafé für thematische Treffen.

Dass Architektur und Räumlichkeiten von Kitas eine große Rolle spielen können, ist längst kein Geheimnis mehr. Es gibt Bücher namens „Architektur für Kinder“, in denen die Raumschöpfer die kindgerechte Konzeption vor den kritischen Fragen der jungen Benutzer ihrer Bauten verteidigen. Mit Kitas lassen sich Architekturpreise gewinnen. Doch das sind seltene Glücksfälle. Wie etwa in einer erst im Sommer eröffneten Kita in Berlins Mitte, wo Wände und sogar Böden mit Gucklöchern durchbrochen sind – und den Kindern so überraschenden Ein- und Durchblick verschaffen. Der gut drei Millionen Euro teure Neubau wurde mittels eines Grundstücktauschs ermöglicht.

Die Realität, der Alltag der von den maroden Kommunalfinanzen betroffenen Kitas sieht ganz anders aus. Noch einmal Berlin-Mitte, der Bezirk mit der Gucklöcher-Kita: Für die 100 Kitas des Stadtteils besteht ein Instandhaltungsetat von sage und schreibe 50 Euro – pro Kita und pro Jahr. Gerda Wunschel und Gisela Hermann wissen selbst, dass es stets am Geld fehlt. Bauausstellung ist nicht alle Jahre. Trotz der beispielhaften Architektur im „Kinder-Park-Haus“ müssen sie zum Beispiel seit Jahren das Loch in der Decke durch Notbehelfe und mittels Spendenaktionen stopfen. Dennoch werden sie nicht müde in ihrem Anspruch, mit den Kindern Räume zu schaffen, die zum Spielen und Lernen anregen.

Gisela Hermann, Gerda Wunschel: „Erfahrungsraum Kita. Anregende Orte für Kinder, Eltern und Erzieherinnen“. Beltz Verlag, Weinheim u. a. O. 2002, 20 €