harald fricke über Märkte
: Nice Scheiß von gestern

Stonewall und Nixon passen nur unter einen Hut, dessen Träger man nicht kennen lernen möchte

Am Anfang war die Stimme. Unerträglich weich in der Betonung der Umlaute, aber wie ein schimmelziehendes Holzfass mit einem mulchigen Beiklang im Abgang. Jetzt ist sie immer da und überall: morgens, mittags, abends, nachts auf Shoppingkanälen und in den Werbeunterbrechungen auf MTV. Der Sprecher, dem sie gehört, scheint sich von ferne durch meinen Schutzschirm zu fressen. Und ich kann nichts machen, nur wehrlos zuhören: „Was war das für ’ne Zeit! Wir waren jung, wir feierten und wir träumten alle einen gemeinsamen Traum.“ Dazu zittern sich im Hintergrund Simon & Garfunkel durch „The Sound of Silence“, später werden The Mamas And The Papas mit „California Dreamin‘ “ eingeblendet, und für ganz Schwerhörige hat jemand „Mr. Tambourine Man“ von den Byrds draufgepackt. Niemand soll verschont bleiben vom 4-CD-Paket „Summer of Love“, das man bei www.shop24direct.com bestellen kann.

Nun ist mir die Musik der Sechzigerjahre oft und gerne ein Trostmittel, das mich nicht verhärten lässt in dieser harten Zeit. Brian Wilsons psychedelische Strand-art aus Surfergirls und Quietscheboys, ein bisschen Schweinegeorgel im Memphis-Soul von Stax, und das waberige Fender-Rhodes-Piano-Rauschen bei Herbie Hancock auch. Das ist gewiss nicht gerade die fachkennerschaftliche Sixties-Abfahrt, aber es hilft, um ohne starke Drogen kurz vor dem Einschlafen auf bessere Träume zu kommen.

Bei „Summer of Love“ dagegen werde ich hellwach, weil mir scheint, dass die Vergangenheit sich dort zu einer riesengroßen Lebenslüge aufgeblasen hat. Im Schnelldurchlauf wird einem die Gemütsverfassung einer Zeit verkauft, die in diesem Mischmasch niemals existiert hat. Das fängt schon mit den Filmbildern an, die dem Werbejingle unterlegt sind: Was hat das 69er „Woodstock“-Festival mit dem Liebessommer von 1967 zu tun? Was eint den Depri-Bombast der Walker Brothers mit Santanas frühem Sexclub-Latin-Rock?

Man mag mich für pingelig halten, aber der Siebzigerjahre-Plateauschuhrock von Uriah Heep und Scott McKenzies „San Francisco“-Blumenkindergebet liegen vom „sonnigen Lebensgefühl der Beat-Generation“, auf das der Schnulzensampler setzt, beide gleich weit wie Sonnensysteme voneinander entfernt.

Offenbar hat die Gleichgültigkeit Methode, mit der hier eben mal Schlaghosen, Batiktücher, Existenzialisten-Spitzbärte und Peace-Zeichen zusammengeschmolzen werden. Wer tatsächlich jung und dabei war, als Hippies angeblich die Welt bevölkerten, und sich im Rückblick trotzdem mit ein paar Schlagern der Hollies oder von Hank Williams zufrieden gibt, muss die Zeit damals komplett aus seinem Gedächtnis gelöscht haben. Vielleicht war er dauernd bekifft, vielleicht auch taub, oder mit etwas ganz anderem als Musik beschäftigt. Genau auf diese letzte Gruppe zielt nun die Sammlung mit „Meilensteinen der 60er“ ab: ein geschichtsloser Pudding für Bierschwemmen, in denen Leute sich eine Vergangenheit vorstellen können, die nie ihre eigene war.

Einige nennen diese Südseetapete des Sixties-Imaginären sogar Pop. Für sie bestätigt das Einerlei aus Flötengefiepe und Gitarrengeklampfe im Greatest-Hits-Format, wie gesellschaftsfähig die in die Jahre gekommenen Jahre des alternativen Lebens geworden sind. Das sind triste Aussichten, wenn man bedenkt, was auf diesem Wege sonst noch einer dermaßen eingetrübten Erinnerung anheimfallen könnte: Ostermärsche und Stonewall im Verbund mit Mondlandung oder Richard Nixon, das alles passt nur unter einen Hut, dessen Träger man nicht wirklich kennen lernen möchte.

Mit der Musik ist es ähnlich. Im Gegensatz zu der auf Rock ’n’ Roll eingeschworenen Jugend war das Differenzierungspotenzial der Sounds der 60er-Jahre enorm, aus denen sich allmählich die Rede vom Patchwork der Minderheiten herausschälte. Diese zahllosen abtrünnigen tribalen Kräfte gleichzeitig aushalten zu können, galt als hohes Gut der kulturellen Vielheit jener Epoche, aus deren Wir-Gefühl, auf das sich gerade der Retro-Sampler aus dem Online-Shop beziehen möchte, am Ende lauter diffuse Ich-Empfindungen hervorgingen. Wer würde sich deshalb schon mit irgendeinem sentimentalen Zeitreise-zum-Kollektiv-Soundtrack identifizieren? Geschmack ist nicht alles, wenn es um die Bewältigung des Lebens geht. Aber er hilft. Zumindest, wenn diese unerträgliche Stimme wieder auftaucht, um den Nice Scheiß von gestern anzupreisen. Dann sollte man abschalten.

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