Ein Vulkan im Plastikbecher

Lindy Annis ist bekannt für ihre Minidramen, verknappte Versionen bekannter Stoffe. In ihrem neuen Stück „Lady Hamiltons Attitüden“ durchquert die amerikanische Soloperformerin eine lange Geschichte der Gefühle und des heute verpönten Pathos im HAU 3

von KATRIN BETTINA MÜLLER

Der Ausbruch des Vesuvs: Vor ein paar Tagen bemühte sich das Fernsehen, nach dem Sonntagskrimi, in einer Mischung aus Dokumentation und Fiktion von der „größten Naturkatastrophe aller Zeiten“ zu erzählen, mit vielen Statisten, neuer Tricktechnik und wissenschaftlichen Berichten. Ein großer Aufwand, um nach dem Monumentalen zu greifen und der Darstellung Lebensechtheit zu verleihen: und doch knirschte jede Sequenz in plakativer Künstlichkeit.

In der Performance „Lady Hamiltons Attitüden“ von Lindy Annis bricht der Vesuv ebenfalls aus: Ein kaum 50 Zentimeter hoher Modellberg aus dünner Gaze geklebt, von innen illuminiert, hinter dem die Performerin Sand hochwirft aus einem Plastikbecher. Keine Sekunde denkt man hier über die Unglaubwürdigkeit der Mittel nach, wenn sie mit bloßen Händen die Modelltannen von der Bergwand zupft und auf den Boden schleudert. Denn wie Lindy Annis Formen verkleinert, Bewegungen reduziert und Geschichten eindampft, ist eine Kunst von großer Präzision und Transparenz.

In der ständigen Untertreibung und der Lakonie liegt ein spezieller Witz der amerikanischen Künstlerin, die ihre Projekte seit 1985 in Berlin entwickelt. Wie sie zum Beispiel in ihrem wunderbar artikulierten Englisch von Lord Horatio Nelson erzählt, dem Liebhaber von Lady Hamilton und Held der englischen Seefahrt. „Battles come, battles go. There goes an eye, there goes an arm.“ Das ist Teil einer gerafften Erzählung, eingespielt aus dem Off, in der Lindy Annis auch ihre eigenen Recherchen zu Lady Hamilton streift, abschweift und von eigenen Liebesabenteuern zu See zu fantasieren beginnt, zu ihrer Heldin zurückkehrt und zu deren Interesse für die Ikonografie der Antike, Lord Hamiltons Ausgrabungen am Fuß des Vesuvs erwähnt, das Schicksal Nelsons abhakt und schließlich auf Lady Hamiltons Ende in Armut zu sprechen kommt.

Doch Sprache, Bilder und Gesten bilden in ihren Stücken stets unterschiedliche Ebenen der Erzählung, die sich nicht immer deckungsgleich entwickeln, sondern gegeneinander verschieben. Während der Text also so durch die Zeiten mäandert, vor- und zurückfließt, zwischen Biografischem und Historischem schwingt, kann man Lindy Annis die ganze Zeit in den „Attitüden der Lady Hamilton“ beobachten, jenen berühmt gewordenen Nachstellungen von kunsthistorischen Vorbildern.

Da ist sie die Wassernymphe, die sitzend an einer Vase lehnt, da stellt sie Empfindsamkeit dar oder den Moment des Schreckens über eine empfangene Nachricht, da sehen wir sie als die Heroinnen der antiken Mythen, Cassandra, Niobe, Sybille oder als Maria Magdalena. Die Bilder zu den Posen hat Lindy Anis auf einem Tisch vor sich ausgebreitet. Sie sind vielfach beschrieben, auch von deutschen Reisenden wie Goethe oder dem Maler Tischbein, die sich diese Vorstellung von Lady Hamilton auf ihrer großen Bildungsreise durch Italien nicht entgehen lassen wollten. Ihre Nachahmung der Werke aus der Kunst galt als der Gipfel des Sensitiven. Die Begeisterung der Zeitgenossen, deren Zeugnisse Teil der Performance sind, galt vor allem der Echtheit des Gefühls, das sie von ihr den Posen der Kunst zurückgegeben sahen. Sie markiert eine Antikenrezeption, die dem Bürgertum ein Bild seiner eigenen inneren Größe gab.

Auf ein neues Stück von Lindy Annis muss man oft lange warten. Und doch setzt sie in ihnen mit großer Kontinuität eine Recherche über die Sprachen des Körpers fort und über die Entwicklung dramatischer Gesten. Es gibt wohl niemand sonst in der Theaterwelt, der sich des verpönten Pathos mit solch minimalistischen und doch auch äußerst präzisen Mitteln annimmt. Sie verfolgt dabei nicht nur, wie viel Kultur und unbewusste Tradition in jedem Ausdruck stecken, sondern auch, was verloren gegangen ist.

Völlig fremd ist uns heute die Kultivierung des Gefühls aus der Epoche der Klassik, das Hineinsteigern in die Innerlichkeit über die mimetische Nachahmung der äußeren Form. Bekannt kommen sie einem zwar alle vor, die Attitüden, die Lindy Annis wieder und wieder durchquert, ihre konkrete Lesart aber, wie sie die Zeitgenossen übten, erscheint dennoch vor allem als fantastisches Konstrukt. Nicht nur die Wahrnehmung und Erkenntnis steht in großer Abhängigkeit von dem, was man weiß, dem Bildungshorizont der eigenen Zeit, sondern auch was man fühlt und empfindet. Da die eigenen Grenzen zu erweitern, indem man sie bewusst markiert und ironisch zur Disposition stellt, ist eine der Stärken von Lindy Annis.

Bis 10. und 15.–17. Januar, 20 Uhr, im HAU 3, Tempelhofer Ufer 10, Kreuzberg