christian wohldorf über die angst im kiez
: Der Schöneberger Balkonchor

Mein Sohn ist drei und will, sobald es dunkel wird, noch eine Rundfahrt mit seinem Roller machen. Wir gehen zwei-, dreimal um den Block: Erdmannstraße, Crellestraße, Langenscheidtstraße.

Er merkt natürlich nicht, dass es immer der gleiche Weg ist. Ich lebe in dieser Ecke seit zwanzig Jahren. Ich weiß nicht, wie er sie wahrnimmt. Sein Roller, sagt er, ist meistens ein ICD – das ist eine Art ICE mit defekter Tür. Er macht die Laute der defekten Tür und schiebt den Roller langsam vor sich her. Ihn fasziniert am ICD nicht die Schnelligkeit, sondern dass er so leise fährt.

Zweihundert Meter von uns entfernt schreit sich ein Mann die Lunge aus dem Leib. Ich verstehe kein Wort, ich höre ihn nur schreien. Von den Balkons rufen andere. Es ist eine kleine Straßenszene aus der italienischen Oper. Unten der unglückliche Liebhaber, auf den Balkons die Kleinstadtbewohner als Opernchor.

„Du Stück Scheiße … du Stück Scheiße … du bist ein Stück Scheiße … lutsch meinen Schwanz!“, ruft ein eleganter Herr, der neben der offen stehenden Beifahrertür eines nagelneuen Mercedes steht. Vor ihm steht eine dickere Kiezbewohnerin Anfang vierzig. Umständlich macht er seine Hose zu. „Wir lassen uns von dir hier wohl noch unsere Ruhe stören!“, berlinert es von den Chorbalkons.

Ich komme näher, mein Sohn ist weiterhin mit den defekten ICD beschäftigt. Ich bitte den Mann, mit der Schreierei aufzuhören. Abrupt dreht er sich zu mir und erklärt: „Ich werde dich töten!“ Er springt zu seinem Kofferraum, der sich sogleich öffnet. „Ich bringe dich um!“ Ich stehe jetzt am Kühler und stelle mir die Waffen vor, unter denen er jetzt nach der für mich geeignetsten sucht. Er findet keine. Er lässt den Kofferraumdeckel geöffnet und geht ein paar Schritte auf mich zu. Wir verharren.

Ich weiß nicht, wie lange. Am Steuer sitzt eine Frau, wahrscheinlich ist es seine. Elegant angezogen, ruft sie ihm ein paar Sätze zu, die ich genauso wenig verstehe wie seine Antwort. Mein Sohn bleibt mit seinem ICD beschäftigt.

Stille. Auch der Balkonchor ist verstummt. In der italienischen Oper setzt nach so einer kurzen Stille dann das Orchester mit einem Fortissimo ein. Der Mann merkt, dass er seinen Mund ein bisschen zu voll genommen hat. Wir wissen beide nicht, was wir nun tun sollen.

„Was hast du gesagt?“, fragt er ganz leise. Ich denke an den Radfahrer, der im Sommer in Kreuzberg erschossen wurde, weil er sich in einen Streit eingemischt hat, und sage gar nichts. „Ick hab die Polizei jerufen“, sagt die Kiezbewohnerin, die er zuerst beschimpft hat. Erneut beschwört ihn die elegante Fahrerin, aber noch hält er die Spannung. Nach einer gut getimten Pause springt er in den Mercedes, und sie fahren davon. Dann kommt ein Polizeiwagen.

Die beiden Polizisten nehmen alles auf, und wir fühlen uns bei ihnen irgendwie geborgen. Wir sind uns nicht einig, ob die Frau im Auto verängstigt war oder stolz, und weder Alter noch Herkunft können wir angeben. „Arabisch – nee, det wüsst ick,“ sagt die Kiezbewohnerin. Sie hat sich offenbar in den Streit zwischen dem Beifahrer und seiner Frau um einen Parkplatz eingemischt. „Für ’n Türken war die Frau zu selbstbewusst.“ „Na jut, würden Sie ihn wiedererkennen?“, fragt der Polizist die robuste Kiezbewohnerin und antwortet selbst: „An seinem Glied wahrscheinlich schon, wa?“

Ob ich Angst um mein Leben gehabt hätte, wollen sie von mir wissen. Nein. Vielleicht. Ich weiß es nicht. Aber bedroht hätte ich mich doch wohl gefühlt! Ja, wahrscheinlich muss ich das?

Ich habe Angst vor dem abschätzigen Blick des Besitzers meiner Videothek, wenn ich zwei Filmtitel verwechsle, oder vor der Supermarktkassiererin, wenn ich meine Kreditkarte nicht schnell genug hervorkrame, aber das Gefühl hier kann ich nicht benennen. Zum Beispiel fand ich die ganze Zeit die Situation auch sehr komisch. „Ihr habt geschimpft!“, sagt mein Sohn vorwurfsvoll, als ich ihn und den leisen ICD die Treppe hochtrage. „Ja“, sage ich erleichtert.