LOBBYARBEIT FÜR TÜRKISCHEN EU-BEITRITT: ERDOGAN HAT VIEL VOR SICH
: Stabilitätsgewinn oder Risikofaktor

Für die Türkei, vor allem für ihre Regierung, hat das Jahr der Entscheidung begonnen. Im Dezember werden die Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union festlegen, ob Verhandlungen über einen Beitritt aufgenommen werden oder nicht – für das Land am südöstlichen Rand Europas eine Entscheidung von ähnlich historischer Tragweite wie für die junge Bundesrepublik die Westbindung unter Adenauer. Wird das Land Teil des Westens, oder bleibt die Türkei eine Republik zwischen allen Stühlen; zwischen Europa und Nahost, zwischen westlicher Demokratie und islamischem Fundamentalismus.

Noch ist nicht klar, ob EU-Europa die Dimension dieser Entscheidung wirklich bewusst ist. Deshalb lässt Ankara nichts unversucht, um seinen Partnern klar zu machen, worum es geht. Der gestrige Besuch des türkischen Ministerpräsidenten Tayyip Erdogan in Berlin war Auftakt und wesentlicher Bestandteil der türkischen Lobbyarbeit in Europa in diesem Jahr. Erdogan setzt darauf, in Kanzler Gerhard Schröder und Außenminister Joschka Fischer Verbündete zu haben. Deshalb will er sich mit Berlin möglichst eng abstimmen. Nach dem gestrigen Auftakt wird Fischer noch in diesem Monat nach Ankara kommen, Ende Februar ist dann der Bundeskanzler am Bosporus.

Ist die EU dazu in der Lage, ein Land von der Größe der Türkei zu integrieren, oder überfordert das die europäischen Institutionen? Nützt der EU ein türkischer Beitritt, oder kostet er nur? Die Fragen sind schon deshalb nur schwer zu beantworten, weil niemand weiß, wie die EU in 10 oder 15 Jahren, also dann, wenn wirklich über einen Beitritt entschieden werden muss, aussehen wird.

Die Alternativen am Ende dieses Jahres sind allerdings klar: Mit einer Entscheidung für die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen würde die EU einen enormen Stabilitätsgewinn an der Schnittstelle zwischen Europa und dem Nahen Osten erzielen. Lässt sie die Türkei aber fallen, wird das Land zu einem schwer kalkulierbaren Risikofaktor in einer sowieso schon instabilen Region.

JÜRGEN GOTTSCHLICH