die englische tabellensucht von RALF SOTSCHECK
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Der Engländer liebt Tabellen. Was sich irgendwie bewerten lässt, wird flugs in eine Liste gepresst. Welche Städte haben die höchste Verbrechensrate, welche Schulen die meisten Versager? Wo liegen die unfallträchtigsten Straßen Britanniens, welche Ärzte bringen die meisten Patienten bei einer Operation um? Alles wird tabellarisch festgehalten.

Noch lieber sind dem Engländer internationale Vergleichstabellen, die sein Land in günstigem Licht erscheinen lassen. So veröffentlichte der Observer kurz vor Weihnachten eine Liste der hundert bedeutendsten Bücher aller Zeiten. Sie erweckt den Eindruck, dass die meisten Nationen dieser Welt des Schreibens unkundig sind. Nur eine Hand voll Bücher, die nicht in Englisch verfasst sind, fanden Gnade vor der Jury. Freilich sind Balzac, die Manns, Puschkin und all die anderen Ausländer selbst schuld: Warum schreiben sie in solch putzigen Sprachen, die niemand versteht?

Manchmal geht die patriotische Listenleidenschaft allerdings nach hinten los. Als die BBC das beste Lied des vorigen Jahrhunderts von den Zuschauern per Internet wählen ließ, war eigentlich nur offen, welcher englische Song das Rennen machen würde. Doch die rund um den Globus verteilte irische Gemeinde machte dem Sender in einer subversiven Aktion einen Strich durch die Rechnung und drückte ein irisches Rebellenlied an die Spitze – vor John Lennons „Imagine“. Wie peinlich. Bei der Wahl des Sportlers des Jahres ging die BBC daher vorsichtiger zu Werke.

Als man beim Sender merkte, dass die Iren die Sache erneut zu vermasseln drohten und den gälischen Fußballer Peter Canavan aus Nordirland zum Sieger wählen wollten, setzte die BBC geschwind ein Komitee ein, das eine Vorauswahl traf. Auf dieser Liste fehlte Canavan. So blieb es den BBC-Reportern erspart, den Zuschauern zu erklären, dass sie jemanden zum Sportler des Jahres gewählt haben, der eine in England unbekannte Sportart praktiziert und aus einem entlegenen Teil des Vereinigten Königreichs stammt, den die meisten Engländer nur vom Hörensagen kennen.

Damit war der Weg frei für John Wilkinson, den Kapitän des englischen Rugby-Teams, das Ende vorigen Jahres die Weltmeisterschaft gewann. Der Titel löste einen nationalen Freudentaumel aus, hatten die Engländer seit dem Gewinn der Fußballweltmeisterschaft 1966 auf sportlichem Gebiet doch wenig zu feiern – die Moorschnorchelweltmeister, die Jahr für Jahr aus Großbritannien kommen, weil diese Sportart nun mal nirgendwo anders bekannt ist, machen international nicht viel her.

Woher kommt dieser englische Drang, alles zu tabellarisieren? Es liegt wohl daran, dass sich die Engländer in Anbetracht ihrer glorreichen imperialistischen Vergangenheit nur schwer daran gewöhnen, in einem furchtbar mittelmäßigen Land zu leben. So suchen sie ständig den Vergleich mit anderen Nationen, selbst wenn sie dabei ständig gedemütigt werden.

Das gilt auch für die Politiker. Tony Blair sagte bei seinem Amtsantritt 1997, er wolle Großbritannien zu dem Land machen, in dem es sich am besten in der ganzen Welt leben lässt. Er könnte mit seinem Rücktritt den ersten Schritt in diese Richtung tun.