Maulkäs mit Musik

Wider den Netzer: Ein notwendiger Bannspruch nebst Ausblick in fussballloser Zeit

Mit Netzer meinen wir jetzt alle mal: Deutschland wird Vizeeuropameister!

Noch recht präzise erinnerlich ist Rudi Völlers poetische und rhapsodisch, ja, im Roman Herzog’schen Sinne ruckartig vorgetragene Kritik an der Fernsehberichterstattung nach dem Nullzunull der deutschen Fußballnationalmannschaft im EM-Qualifikationsspiel auf dem kalten Eiland Island. Gegen einen gewissen „Schwachsinn“ und auch permanent-manifesten „Scheißdreck“ hatte sich da der DFB-Teamchef verwahrt, und seine orkanartig brausende Philippika galt vor allem den beiden wer weiß durch welche Weltgeistumnebelung mit dem Grimme-Preis ausgezeichneten Nachkartlern Gerhard Delling und Günter Netzer.

Doch ungeachtet jenes stammtischsportiven Geschwätzhöhepunkts des Jahres 2003: Pechschwefelarm im Geiste ist, wer unverdrossen glaubt, Günter Netzer sei ein außergewöhnlicher Fußballer gewesen und heute ein „unbestechlicher“ Kommentator und extraordinärer „Experte“. Netzer ist bloß ein öd-ordinärer Phrasendrescher, der, ausgestattet mit dem Nimbus des eigenen Mythos, seit Jahr und Sankt Nikolaustag dieselben Platitüden herunterkloppt – wie jener Skatbruder, der zur just hingeschmetterten Herz-Dame zuverlässig blökt: „Ein Herz hat ein jeder!“

Hätte Günter Netzer ein Herz, so besäße er den Charakter, den es braucht, um nicht pausenlos zu wiederholen, die hiesigen Elitefußballer würden „keinen Charakter zeigen“ und ließen „die deutschen Tugenden“ vermissen. Mühen tun sie sich nämlich, ob sie Deutsche sind oder nicht. Und im Umkehrschluss vermiede er es, nimmermüde herunterzuleiern: „Wir werden nie Brasilianer.“

Weil man ihn jedoch in seinen ethnifizierenden Stammelstereotypen gewähren lässt, hält der lässige Einfaltspinsel nicht inne. Zudem vergreift er sich ohne Unterlass an einem, der im Gegensatz zu ihm tatsächlich ein großer, ein kompletter Fußballer genannt werden darf: Michael Ballack.

Auch die FAZ vermochte es zum Jahresende in einem Interview nicht, dem Schweizer Fernsehrechtehändler mehr abzuringen denn den üblichen Maulkäs mit Musik. Ballack, flötete der flotte Netzer abermals, sei keine „Nummer zehn“ und kein „Dirigent“, denn: „Er besitzt nicht die Mentalität dafür, er hat dafür nicht den Charakter.“

„Mentalität“, „Charakter“: In solchen schimmelpilzartigen Kategorien spricht der Humpftahumpfta-Mann, dem seine elenden Sekundärtugenden zu Natureigenschaften werden, weil es jemanden zu denunzieren gilt, der nicht ins Schema passt. Netzers Schema ist ein Bild des Fußballs, in dem die Mittelfeldführerfigur ungerührt den Kristallisations- und Orientierungspunkt darstellt, und drum herum hat ein Häuflein Sekundanten strammzustehen beziehungsweise die Waden des Gegners zu zernagen.

Ballack, drehorgelt Netzer, „hat die Führungsmentalität nicht verinnerlicht“. Wo der Führer fehlt, fallen die andern ab. „Die deutschen Tugenden“, schwingt sich Netzer zur verfallsgeschichtlichen Kadenz auf und wendet sie dann im Hinblick auf die kommende Europameisterschaft plötzlich ins Gegenteil, „lassen immer noch unmögliche Dinge möglich werden“, meint: das prophezeite Ausscheiden in der Vorrunde möglicherweise unmöglich beziehungsweise nicht wirklich werden.

Aha. Es sei also doch denkbar, die Zwischenrunde zu erreichen? Netzer: „Das kann durchaus passieren.“ Und wie soll das gelingen, da „unsere Elf“ doch so erbärmlich sei? „Wer sagt, dass sie nicht auch bei diesem Turnier ihren Weg findet und Dinge leistet, die ich von ihr nicht erwarte?“

Wer sagt’s denn! Netzer! Netzer. Immer wieder Netzer. Netzer, der Fußballgott und -augur mit dem Fragezeichen hinten an der Meinung. Und weil er das meint, meinen jetzt mal wir: Deutschland wird Vizeeuropameister! Mit Ausrufezeichen! Und zwar mit einem Unentschieden gegen die Niederlande, zwei knappen Siegen über Lettland und die Tschechische Republik, einem anschließenden Knüppelkrimi gegen Italien, einer traumhaften Parforcepartie gegen Kroatien im Halbfinale und einer erhaben verhobelten Endspieldarbietung gegen Frankreich. Und das alles trotz netzerartiger Wettquoten, trotz eines Balls, der mit seinem Seefahrernamen „Roteiro“ auf Gastgeber Portugal wie an- und zugeschnitten scheint, trotz des augenblicklichen Fifa-Ranglistenplatzes zwölf, eingekeilt zwischen den USA und Dänemark, überflügelt von Mexiko, Position sieben, und Costa Rica auf Platz siebzehn im Nacken.

Und all dies, zuletzt, trotz all jener Äußerungen nach dem traditionellen Losunglück, welche besagten, die Gruppe D sei, so Oliver Kahn, „eine sehr schwere Gruppe“, ja sei, so Rudi Völler, „eine sehr starke Gruppe.“ Denn wahr bleibt, was wahr und unumstößliches Gesetz ist: Das Reden über Fußball ist ein Wortspiel mit zweiundzwanzig Wörtern, und am Ende gewinnt fast immer das Dummwort: Deutschland. JÜRGEN ROTH