Einmal nicht geschwiegen

Den meisten war die Sache peinlich, weil sie bewies, dass man etwas tun und Erfolg haben konnte

aus Berlin PHILIPP GESSLER

Hans-Oskar Baron Löwenstein de Witt dreht an einem Dimmer, das Zimmer der Berliner Sozialwohnung erstrahlt. Groß ist es nicht, doch öffnet sich eine ganze Welt: Überall leuchten Lämpchen auf, ihr Licht fällt auf Perserteppiche auf dem Boden und an den Wänden. Den Raum dominieren ein Schrank und ein orientalischer Paravent mit Holzschnitzornamenten und Silbereinlagen. Auffällig sind die Fotos, viele hat die Zeit gelblich-orange gefärbt. Die Fotos erzählen die ganze Geschichte.

Da ist eines aus dem Jahr 1929, Hans-Oskars Mutter Johanna als junge Frau nackt im Schilf stehend: Diese Frau widerstand wenige Jahre später dem Gestapo-Chef Heinrich Müller, der sie zur Scheidung von ihrem jüdischen Mann zwingen wollte. Da ist, samt Zofe, ein Foto von Tante Li, die als NSDAP-Mitglied mit goldenem Parteiabzeichen ihren Schwager monatelang versteckte. Da ist schließlich, als alter, lachender Mann unter Israels Sonne, Fritz Löwenstein, der mit seinem Sohn Hans-Oskar heute vor 60 Jahren in ein Sammellager in der Rosenstraße in Berlin-Mitte gebracht wurde: Wie hunderte andere Juden entgingen sie der Deportation nur, weil hunderte nichtjüdische Frauen auf der Straße für die Freilassung ihrer Männer und Kinder demonstrierten. Die Tat in der Rosenstraße ist ein Mythos geworden: die einzige öffentliche Protestkundgebung der Nazizeit.

Baron Löwenstein de Witt bittet zum Tee – nur zweimal, sagt er, dürfe man ihn im Artikel Baron nennen: „Dann lasst diesen verfluchten Baron weg.“ Im Nachbarzimmer ist alles vorbereitet, ein altes Porzellanservice viel Silber mit eingraviertem Adelswappen. Seine Patrizierfamilie, sagt er, gehe zurück auf die Brüder Jan und Cornelis de Witt, die fast 20 Jahre lang erfolgreich die Niederlande führten, ehe sie 1672 bei einem Volksaufstand gelyncht wurden. Der 76-Jährige erzählt gern aus seiner Familienhistorie, er eilt von einer Begebenheit zur nächsten, und man muss ihn wieder zurückbringen zu der Geschichte um die Rosenstraße.

Diese Geschichte beginnt mit einer Reise nach Venedig, bei der sich die Potsdamerin Johanna de Witt aus ziemlich verarmtem evangelischen Adel und der reiche jüdische Fabrikantensohn und Bankkaufmann Fritz Löwenstein kennen lernten: „Liebe auf den ersten Blick“, sagt Löwenstein de Witt trocken. 1922 dann die Heirat, eine Villa am Meer von Stralsund, eine Hochseeyacht. Löwensteins Vater verdiente Millionen an der Börse, dann kamen die Nazis. Fritz Löwenstein wurde arbeitslos, blieb aber vermögend. Auf der Flucht vor der Judenhetze zog die Familie nach Berlin an den Kurfürstendamm.

Einen gewissen Schutz boten ab 1933 Naziverwandte, die dem Regime nahe standen, unter ihnen Großonkel Wolf Heinrich von Helldorf, der korrupte Polizeipräsident von Berlin. Vor allem aber war da Tante Li, die, verheiratet mit einem Duzfreund des letzten Kaisers Wilhelm II., im Palais Lichtenau in Potsdam wohnte. Als altgedientes Mitglied der Nazipartei gelang es ihr, das konfizierte Silber der Familie Löwenstein de Witt zurückzubekommen.

1938 durfte Hans-Oskar keine reguläre Schule mehr besuchen, sondern nur noch auf die Schule der jüdischen Reformgemeinde gehen. Dazu musste er offiziell dem Judentum beitreten. Dabei konnten seine Eltern mit ihrer jeweiligen Religion wenig anfangen, hatten ihren Sohn weder taufen noch beschneiden lassen. Fritz Löwenstein hing am Judentum nur noch aus Familientradition.

Der Druck auf die Familie nahm zu: Gestapochef Müller versuchte mehrmals und am Ende brüllend, Hans-Oskars Mutter als Tochter einer „preußischen Offiziersfamilie“ zu überzeugen, sich von ihrem Mann scheiden zu lassen. „Gerade weil ich eine preußische Offizierstochter bin, bleibe ich beim Vater meines Kindes“, sagte sie. Das rettete ihrem Sohn und Mann das Leben. In dieser Zeit bat der Ufa-Star Willy Fritsch, ein Nachbar der Familie, Johanna Löwenstein de Witt, ihn doch bitte nicht mehr auf der Straße zu grüßen. In ihrer Wohnung am Kurfürstendamm wohnte bald in jedem Zimmer eine jüdische Familie – so lange, bis sie deportiert wurde. Hans-Oskar und sein Vater Fritz mussten ab 1941 Zwangsarbeit leisten.

Dann kam der 27. Februar 1943: Bei der so genannten „Fabrikaktion“ wurden tausende noch in der Hauptstadt lebende Juden von ihren Arbeitsstellen und Wohnungen weg verhaftet. „Wir schaffen die Juden endgültig aus Berlin heraus“, schrieb Propagandaminister Joseph Goebbels in sein Tagebuch. Über 7.000 Männer, Frauen und Kinder wurden nach Auschwitz deportiert. SS- und Gestapomänner brachten fast alle „arisch Versippten“ – gemeint waren damit beispielsweise Männer mit christlicher Frau – in einen leer geräumten Bürobau in der Rosenstraße. Hans-Oskar und Fritz Löwenstein de Witt gehörten zu den rund 1.700 Häftlingen.

Vor der Tür des Gebäudes in der Rosenstraße tat sich jedoch etwas: Es sammelten sich immer mehr Frauen von Inhaftierten. „Gebt uns unsere Männer zurück!“, forderten sie, und sie kamen immer wieder, Tag und Nacht. Zeitweise waren es hunderte, ja so viele, dass die Polizei die Straße absperrte. Die Rufe der protestierenden Frauen, gestärkt durch die Erfahrung der Solidarität, wurden zunehmend regimekritischer: „Ihr Mörder!“, riefen sie. SS und Polizei schikanierten die Protestierenden. Sogar Maschinengewehre wurden auf die Frauen gerichtet, es fiel aber kein Schuss. Zu den protestierenden Frauen gehörte auch Johanna Löwenstein de Witt. Und Tante Li, das altgediente NSDAP-Mitglied.

Im Haus saß der damals 16 Jahre alte Hans-Oskar mit seinem Vater. Er erinnert sich noch, wie im Gebäude alle möglichen Gerüchte kursierten: Alle Männer würden sterilisiert, sie müssten nach Theresienstadt, ja nach Auschwitz – nein, ganz falsch, Luftwaffenminister und Reichsmarschall Hermann Göring halte seine schützende Hand über sie. Es war eng, das Haus überfüllt, die Männer schliefen auf Matratzen auf dem Boden. Vor den wenigen Toiletten standen Schlangen von über zehn Männern. Die Fenster des Gebäudes waren, wie in der ganzen Stadt, zum Schutz vor Bombern verdunkelt. Zu den draußen stehenden Frauen hatten die Häftlinge kaum Kontakt. Manchmal überzeugten die Angehörigen auf der Straße einen der Wächter, etwas zu Essen weiterzugeben. Aber keine Informationen. Dennoch, sagt Löwenstein de Witt: „Im hintersten Hinterkopf habe ich gehofft, dass man als Mischling irgendwie gerettet würde.“

Wohl vor allem aus Angst vor einer Ausbreitung des Aufruhrs und dem Unmut der Bevölkerung nach der Niederlage in Stalingrad wurden die Häftlinge ab dem 7. März nach und nach freigelassen. Selbst aus Auschwitz wurden 25 Männer zurückgebracht, die zuvor in der Rosenstraße inhaftiert waren.

Ein Berliner Historiker hat kürzlich die These vertreten, die Nazibehörden hätten die Entlassung der Gefangenen der Rosenstraße bereits vor dem Protest der Frauen geplant. Löwenstein de Witt hält das für falsch: „Das stimmt absolut nicht.“ Es sei doch unlogisch, die „arisch Versippten“ erst mühsam zu sammeln, nur um sie dann wieder freizulassen.

Auf der Straße sammelten sich die Frauen der Häftlinge. „Ihr Mörder!“, riefen sie den SS-Leuten zu

Weil die Wohnung der Löwenstein de Witts am Kurfürstendamm von einer Bombe getroffen worden war, mussten sie nun in ein anderes „Judenhaus“ umziehen. Im Sommer 1944 drohte eine erneute Verhaftung. Die Familie flüchtete zu Tante Li nach Potsdam, die, das nahe Ende des Regimes vor Augen, ihre sieben Angestellten rief und verkündete, wer von nun an hier wohne: die Herren von Seckendorff-Gudent und von Bergmann. Alle Angestellten wussten, dass dies eine Lüge war. „Sie riskierte ihren Kopf“, sagt Löwenstein de Witt, „ohne mit der Wimper zu zucken.“

Obwohl sogar eine Waffen-SS-Einheit im Palais einquartiert wurde, ging die Sache bis Januar 1945 gut. Dann flogen Hans-Oskar und sein Vater auf, sie wussten nicht, wer sie verraten hatte. Sie kamen in ein Lager im Wedding. Dort überzeugten die Häftlinge die Lagerführung, dass es angesichts der nahenden Front besser wäre, niemanden mehr zu ermorden. Der SS-Leute ließen sich die befreiende Befehlsverweigerung von den Inhaftierten schriftlich bestätigen, dann türmten sie. Hans-Oskar und Fritz Löwenstein de Witt waren frei.

Fritz wurde nach dem Krieg Vizesozialminister Brandenburgs. Als ihm der DDR-Mief zu schlimm wurde, wanderte er 1950 mit seiner Familie nach Israel aus. Hans-Oskar kämpfte in allen Kriegen Israels, Fritz arbeitete im Sozialministerium. Da Hans-Oskar als Reformjude und seine Mutter als Christin nur eingeschränkte Staatsbürgerrechte in Israel hatten, zog die Familie 1966 wieder nach Berlin.

Bis vor zehn Jahren, sagt Hans-Oskar Löwenstein de Witt, sei die Geschichte um die Rosenstraße „totgeschwiegen worden“: Den Juden sei die Sache peinlich gewesen, da sie Männer betraf, die durch die Mischehe gleichsam „abtrünnig“ gewesen seien. Der nichtjüdischen Mehrheitsgesellschaft war die „Rosenstraße“ unangenehm, da sie bewies, dass Widerstand von normalen Menschen möglich war – und Erfolg haben konnte: eine Ohrfeige für die Millionen, die stets betonten, Protest sei zu gefährlich gewesen: „Man hat etwas machen können“, sagt Hans-Oskar Löwenstein de Witt ruhig.

Fritz Löwenstein starb 1971, seine Frau 1983. Hans-Oskar hat sie bis zu ihrem Tod gepflegt. Tante Li wurde über 100 Jahre alt. Einen Ehrenbaum in Yad Vashem, der Jerusalemer Holocaust-Gedenkstätte, lehnte Baronesse Löwenstein de Witt ab. Und Tante Li auch. Die mit dem goldenen Parteiabzeichen.