Selbst Taschengeld wird nicht geschont

Viele Tücken der Gesundheitsreform sind lange bekannt – aber erst jetzt wird nachverhandelt. Besonders Heimbewohner, Sozialhilfeempfänger und chronisch Kranke müssen mit großen Unsicherheiten kämpfen

BERLIN taz ■ Niemand hätte vermutet, dass die Gesundheitsreform am 1. Januar reibungslos anliefe. Immerhin aber waren die Grundzüge dieses dicken und folgenreichen Reformpakets seit dem Spätsommer bekannt. Dass es etwa ein Problem für Sozialhilfeempfänger sein könnte, in einem Monat 2 Prozent ihres Jahresbrutto für Zuzahlungen und Praxisgebühr auf den Tresen zu legen, hatte das Gesundheitsministerium früh bemerkt (taz vom 24. Juli 2003). Deshalb ist es für Betroffene dramatisch, für Beobachter verwunderlich, in wie vielen Punkten es bei der Umsetzung der Reform, mit der dieses Jahr 10 Milliarden Euro gespart werden sollen, hakt und hapert.

Beispiel Heimbewohner: Behinderte und alte Menschen, die in Heimen auf Sozialhilfe leben, bekommen oft nur ein Taschengeld um die 80 Euro. Außerdem benötigen sie häufig, manchmal täglich, medizinische Hilfe und Medikamente – was nun alles 10 Euro Gebühr kostet. Weder die Heime selbst noch die Kommunen als Sozialhilfeträger noch die Krankenkassen haben dafür vorgesorgt, dass es diese betroffene Gruppe verstören dürfte, ihr Taschengeld nunmehr für Arzt und Pillen ausgeben zu müssen.

Theoretisch darf diese Gruppe zwar nur bis zur Belastungsgrenze von 2 Prozent vom Bruttoeinkommen – chronisch Kranke 1 Prozent – belastet werden. Für Sozialhilfeempfänger beträgt die Jahresbelastung also entweder rund 70 oder 35 Euro. Doch die Kassen sind noch nicht darauf eingerichtet, sofort Befreiungszettel auszustellen. Bei der AOK Berlin etwa wurden empörte Betreuer mit der Auskunft abgefertigt, die Bearbeitung dürfe sich „bis August oder so“ hinziehen. Das Thema steht am 15. Januar auf der Tagesordnung eines Treffens von Kassen und Ministerium. Bis dahin werden viele Heimbewohner ihr Januar-Taschengeld schon komplett losgeworden sein.

Beispiel Chroniker: Es ist zudem noch überhaupt nicht klar, wer sich künftig zu der Gruppe der chronisch Kranken zählen darf. Daher ist für alle, die krank sind und von wenig Geld leben müssen, auch noch nicht klar, ob sie mit 1 oder mit 2 Prozent Gesundheitszusatzkosten rechnen müssen.

Der zuständige Bundesausschuss der Ärzte und Krankenkassen hat eine Definition vom „Chroniker“ beim Gesundheitsministerium abgeliefert, die sehr eng gefasst ist: Etwa muss man dazu eine schwere Behinderung oder eine schwere Pflegestufe oder einen Krankenhausaufenthalt nachweisen. Dies wurde vom Ministerium zwar beanstandet – weil es die Bedeutung eines Krankenhausaufenthalts für überbewertet hält. Stattdessen soll die ambulante Behandlung gestärkt werden. Dass aber die Definition des „Chronikers“ so streng werden könnte, dass künftig kaum noch jemand dazu zählen dürfte, wurde nicht moniert. Bis Ende Januar wird der Ausschuss „nacharbeiten“, heißt es – kranke Menschen dürfen gespannt sein.

Beispiel nicht versicherte Sozialhilfeempfänger: Anfang 2003 gab es Ärger um die Frage, ob nicht versicherte Sozialhilfeempfänger wie Privatpatienten behandelt würden. Die Antwort lautete: In aller Regel nein; aber es war zu spät. Bild berichtete, der CDU-Abgeordnete Martin Hohmann stellte eine Anfrage im Bundestag, die Öffentlichkeit bekam den Eindruck, dass nicht versicherte Sozialhilfeempfänger privilegiert seien.

Deshalb beschlossen die Gesundheitsreformer, dass diese Gruppe – vermutete 600.000 bis 900.000 Menschen – künftig zwischen Kassen und Kommunen wie gesetzlich Versicherte abzurechnen sei. Die Betroffenen sollen sich nun eine Kasse aussuchen.

Das mag einerseits alles vernünftig klingen. Andererseits aber ist noch völlig unklar, an welchen der viel beworbenen „Bonusmodelle“ der Kassen Sozialhilfeempfänger künftig teilhaben dürfen. Für normale Versicherte haben viele Krankenkassen Modelle ausgetüftelt, wonach etwa für die Teilnahme an Vorsorgeuntersuchungen die Praxisgebühr erlassen wird und Ähnliches.

Außerdem werden mit großem fachlichen Aufwand koordinierte Behandlungsprogramme, so genannte Disease-Management-Programme (DMPs) für chronisch Kranke entwickelt. Sozialhilfeempfänger, eine der wichtigsten, wenn nicht die wichtigste DMP-Zielgruppe, dürfen jedoch nicht sicher sein, welche Kasse ihnen diese Segnungen anbietet. Der viel beschworene Wettbewerb zwischen Kassen, von dem die Versicherten angeblich profitieren, weil sie zwischen Bonustarifen und Behandlungsprogrammen wählen dürfen: Für Sozialhilfeempfänger gilt das gegenwärtig nicht.

Endgültig fragwürdig wird die Neuregelung für bislang nicht versicherte Sozialhilfeempfänger, wenn man den Blick auf die Hartz-IV-Reform richtet, die 2005 in Kraft treten soll. Dann werden Arbeitslosen- und Sozialhilfe zusammengelegt, und nach Schätzungen der Kommunen werden 80 Prozent dieser Gruppe dann bei der Bundesagentur für Arbeit pflichtversichert. Der ganze Verwaltungsaufwand wird sich dann wiederholen.

ULRIKE WINKELMANN

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