In der Nische zwischen Groschen und Binse

Die Binse lebt am Rande der Fließgewässer in Auen, wo die Wasserstände noch mit den Jahreszeiten wechseln. Diesem natürlichen Rythmus hat Christa Jöhlinger ihr Ritterhuder Atelier „Binsenweisheiten“ angepasst. Reportage über einer Zunft, die den Gang alles Natürlichen anzutreten droht

Handarbeit hat ihren Preis. Regel: „Ein Groschen pro Quadratzentimeter“

taz ■ Vor hundert Jahren wäre Christa Jöhlinger vielleicht Korbflechterin geworden – und hätte damit ein Auskommen gehabt. Doch als die robuste Frau 1957 geboren wurde, standen die Zeichen bereits auf Nylontaschen und Plastikstuhl. Korbflechter gehen seither den Weg alles Natürlichen – und werden selten. Allenfalls als Kunsthandwerker können ihre Nachkommen überleben – oder als Spezialisten mit der einen oder anderen Fingerfertigkeit. In einer solchen Nische operiert heute Christa Jöhlinger.

Als Binsenflechterin unterhält sie in einem alten Ritterhuder Bauernhaus ihr kleines Atelier „Binsenweisheiten“. Zehn Quadratmeter groß ist die Nische, in der die Jöhlinger dort aus finderdicken Binsenhalmen Stuhlsitze flechtet. Mal mehr, mal weniger, ganz nach Auftragslage. Ein wenig geht es der rundlichen 46-Jährigen mit den tiefen Lachfalten um die Augen wie der Binse selbst, die – unter Naturschutz gestellt – am Rande von Fließgewässern lebt, in den stilleren Auen, wo die Wasserstände noch mit den Jahreszeiten wechseln.

Dabei steht die Natur für Jöhlinger weniger im Vordergrund. Ihr geht es vor allem um die Binse – dieses fingerdicke Gras, das sie für ihre Stuhlsitze aus den Elbauen zwischen Uetersen und Hamburg holt. „Ganz weiches Material, wenn es feucht ist“, öffnet sie zum Beweis ihre Handflächen, die die einer Babyschwester sein könnten – mit der sie sicher die Sorgfalt beim Arbeiten teilt.

Jeder Binsenhalm wird achtsam ausgewählt, seine empfindlichen Stellen sorgsam verdeckt und wieder und wieder wird die Binse zart gedrückt, fast gestreichelt, bis sie dann entschieden ums Holz gewunden wird, so dass aus einem symmetrischen Gebinde aus Halmen ein fester Sitz entsteht.

Als Handarbeit hat sowas heute seinen Preis. „Ein Groschen pro Quadratzentimeter“ lautet die Regel, die die Kunsthandwerkerin noch traditionell zu Grunde legt, wenn sie für den Kostenvoranschlag den Taschenrechner anwirft. 70 Euro kann ein Sitz kosten, eine Bank natürlich mehr.

Früher war das anders – da gab, wer konnte, viel Geld aus, um bloß nicht auf Binsen zu sitzen. Vom traditionellen Finckenwerder Hochzeitsstuhl aus dem Elbe-Raum beispielsweise weiß man: „Die Reichen ließen sie mit Holzsitz anfertigen. Die Binse war als arme-Leute-Material verschrien.“ Die Flechterin schüttelt den Kopf – wo ihre Binse doch so schön wärmt und dabei schön weich ist. Beim Verarbeiten sogar so weich wie Marshmellows – mit einem zimtigen Geruch irgendwo zwischen Holz und Stroh.

Noch duftet die ganze Werkstatt danach, obwohl Jöhlingers Binsenvorrat schon schrumpft. Mit Binsen ist es wie mit Heidehonig. Irgendwann ist Schluss. Dann hilft nur noch warten auf die nächste Ernte – im August. Zwei Zentner wird sie dann wohl vom Binsenbauern an der Elbe holen, der von dort ins ganze Bundesgebiet liefert.

„Viel sind zwei Zentner nicht“, räumt die Binsenflechterin ein. Aber mehr als zwei Tage pro Woche flechtet sie nie. Nur im Frühjahr und Sommer macht sie Ausnahmen, wenn sie auf historischen Märkten, im Bremerhavener Fischereihafen oder bei Museumstagen auftritt und dort ihre Kunst zeigt – denn: „Unter Existenzdruck kriege ich Sehnenscheidenentzündung.“

Gerade hat die gelernte Feingeräteelektronikerin eine Fortbildung zur Finanzbuchhalterin beendet – als „zweites Standbein, neben der Binse.“ Denn mit der Konkurrenz aus Polen, wo heute viele Flechtarbeiten aus Deutschland auch an den historischen norddeutschen Eichenstühlen in Auftrag gegeben werden, wird sie nie mithalten können.

Gelernt hat Christa Jöhlinger ihr Metier nur durch Abschauen. Dann erlag der alte Korbflechtermeister, der sie ein Werkstück hatte anfertigen lassen, einem Herzinfarkt.

Wieder und wieder drückt Christa Jöhlinger die Binse, streichelt sie fast

Doch er hinterließ eine Art Vermächtnis. Seine Witwe bot ihr die hinterlassenen Binsen an – und berichtete, wie er ihr noch gesagt hatte: „Um die Jöhlinger brauche ich mich nicht sorgen, die kann das.“

40 Jahre war sie da. Bis heute ist sie dem Meister dankbar, dass er nicht an ihrer Fingerfertigkeit zweifelte. Seither tut Christa Jöhlinger, wovon ihr als junger Frau alle abrieten: Binsen flechten.

Eva Rohde

Atelier „Binsenweisheiten“, Goethestr. 32, Ritterhude, ☎ 04292 - 23 85. Am Samstag, dem 10. Mai, flechtet Christa Jöhlinger ab 10 Uhr anlässlich der Eröffnung der Polsterwerkstatt Reinhard Krämer in Bremen, in der Graf-Moltke-Str. 44 (ab 10 Uhr)