Der Kamellekampf um Berlin

Zielgruppengerechter Karneval ist Teil des Berliner City-Marketings. Eine Ethnologin hat untersucht, wie es mit geschickter PR gelang, die Berliner Narren im zweiten Anlauf auf die Straße zu bringen

von STEFAN WELLGRAF

„Mäßig neugierig, ein bisschen befremdet, ein bisschen erheitert, aber auf jeden Fall jut, dass ein Gitter dazwischen ist.“ So beschrieb der Tagesspiegel die Reaktion der Bevölkerung, als in den 50er-Jahren schon mal der Versuch unternommen wurde, den Straßenkarneval in Berlin zu etablieren. Fünfzig Jahre später sind die erneuten Bemühungen von mehr Erfolg gekrönt.

Betrachtet man die beiden Versuche, fallen dennoch erstaunliche Parallelen auf. Wie Franziska Becker, Ethnologin an der Universität Marburg, in ihrer Studie über das Berliner Narrentum nachweist, waren es beide Male wirtschaftliche und politische Eliten, welche die Idee des Faschings als Marketingstrategie aufgriffen. Der jetzige Karneval gewinnt darüber hinaus durch eine weitere Komponente an Brisanz: Es geht um die Übernahme des öffentlichen Raums der Stadt durch Symbole und Traditionen des Bonner Rheingebiets. Karneval ist Teil eines Kampfes um die Herrschaft in Berlin-Mitte.

Auf der einen Seite der Auseinandersetzung steht das Restaurant „Ständige Vertretung“ am Schiffbauerdamm, in dessen Räumen der aus Bonn übergesiedelte Edel-Politwirt Harald Grunert die Idee eines neuen Berliner Karnevals entwickelte. Demgegenüber existiert das vor allen von den Medien artikulierte Befremden vieler Berliner über die rheinische Form des Pappnasenfestes.

Der Versuch, Karneval zu Zwecken des City-Marketings zu etablieren, scheiterte in den Fünfzigerjahren vor allem an der negativen Medienberichterstattung. Diese kritisierten unter anderem das Künstliche der Parade und ihren preußisch-militärischen Charakter. Die Parade musste eingestellt werden, als sich daraufhin die Schultheiss-Brauerei als Hauptsponsor zurückzog. Der Straßenkarneval der Fünfzigerjahre hatte sich als Anachronismus erwiesen.

Dennoch wird seit dem Jahr 2001 wieder ein jährlicher Karnevalszug organisiert. Dies wurde möglich, weil Harald Grunert von der „Ständigen Vertretung“ seine von Bonn nach Berlin übergesiedelten Public-Relations-Netzwerke für eine gut organisierte Werbekampagne nutzen konnte. Zudem holte er die Berliner Karnevalsvereine aus den Kneipenhinterzimmern hervor. So konnte im Jahr 2001 ein Karnevalszug mit immerhin rund 150.000 Zuschauern organisiert werden. Voriges Jahr sollen es dann sogar mehr als 200.000 Zuschauer gewesen sein.

Die Aktualität der Frage, inwieweit die neue politische Klasse den Stadtraum zur Inszenierung ihrer Präsenz nutzen darf, zeigte sich vor allem im vor drei Jahren von Bundestagspräsident Wolfgang Thierse erlassenen Karnevalsverbot im Reichstag. Ein Bundestagsabgeordneter beschwerte sich damals in der taz über Thierses angeblich „sauertöpfisches Verhalten“. Bundespolitiker wie Guido Westerwelle inszenierten sich zudem vor der Hauptstadtpresse bewusst als rheinische Frohnaturen.

Der Geschäftsmann Harald Grunert versuchte den Berliner Fasching zuletzt weniger als Folklore, sondern im Rekurs auf zeitgemäße großstädtische Inszenierungsmöglichkeiten zu erklären. So sieht er in dem öffentlichen Verkleidungstamtam vor allem ein publikumswirksames Großereignis zur Ankurbelung des Konsums und stellt ihn ohne nähere Begründung in eine Reihe mit dem „Karneval der Kulturen“, der „Love Parade“ oder dem „Christopher Street Day“. Mit seinem Kamelleimplantat will Grunert vor allem ein Mittelschichtspublikum mit gehobenem Lebensstil ansprechen.

Grunerts bloße Werbestrategie eines modernen Spaßkarnevals steht im deutlichen Gegensatz zur realen Tradition des Westberliner Honoratioren- und Kneipenkarnevals. Konservative Vereine wie die „Fidelen Rixdorfer“ (siehe unten) hatten in Berlin jahrzehntelang weitgehend unbemerkt ihren Sauf- und Marschkarneval gefeiert.

Im Ostteil der Stadt hatte sich parallel dazu ein zum Teil bis heute erhaltener Betriebskarneval entwickelt. Erst im Zuge der Initiative Grunerts bekamen die etwa 20 Berliner Karnevalsvereine die Gelegenheit zur öffentlichkeitswirksamen Selbstinszenierung.

Der diesjährige Karnevalszug wird am Sonntag unter dem Motto „Mittendrin ist echt dabei“ organisiert. Es werden über 300.000 Zuschauer rund ums Brandenburger Tor erwartet. Der Anachronismus lebt weiter.