ein amerikaner in berlin
: ARNO HOLSCHUH über die Erkenntnis, Berliner zu sein

Wie ich falsche Freundlichkeit ablegte – und zu einem ganz ehrlichen Arschloch wurde

Irgendwann stellt sich jeder, der längere Zeit im Ausland lebt, die Frage, wo er zu Hause ist. Ich bin seit mehr als einem Jahr in Berlin. Ich kann Currywurst essen, meinen Weg durch Kreuzberg in finsterster Nacht mit atemberaubendem Alkoholrausch finden sowie Hundekot mit viel Geschick von meiner Fußsohle entfernen. Aber reicht das? Bin ich nun Berliner? Wenn ja, will ich in die Fußstapfen von John F. Kennedy treten und meine Zugehörigkeit dieser Stadt vor dem Schöneberger Rathaus verkünden. Nur zweifle ich irgendwie daran, dass diese Neuigkeit mit so viel Begeisterung aufgenommen wird, wie es JFK seinerzeit erlebt hat. Aber man darf hoffen.

Jubelnde Mengen hin oder her. Seit einer Woche weiß ich, dass sich meine alte kalifornisch-mittelwestliche Mischidentität aufgelöst hat und von einer neuen berlinerischen ersetzt worden ist. Es war ausgerechnet eine Amerikanerin, die mir die Transformation ermöglicht hat: Veronica, eine kaum Bekannte, die die alte Tradition pflegt, mit einem Rucksack durch Europa zu bummeln, kein Wort zu verstehen und sich dennoch einzubilden, man hätte jede Menge kontinentaler Kultur aufgenommen.

Als – damals noch – guter Ami habe ich ihr natürlich gesagt, sie könne während ihres Berlin-Aufenthaltes bei mir pennen. Einer Landsfrau kann man das nicht verweigern, zumal wir Amerikaner ja so gastfreundlich sind. Doch innerhalb weniger Sekunden nach ihrer Ankunft merkte ich, wie wenig ich mit dieser Person gemein habe.

Sie wollte nämlich die ganze Zeit reden. Damit meine ich nicht Reden im Sinne von Austausch von Ideen und Argumente. Ich meine Reden als Dauerzustand. Erst klärte sie mich über ihre letzten zehn Beziehungen auf, dann über ihre angebliche Vergangenheit als Hoffnungsträgerin bei der Frauenfußballmannschaft der University of California, schließlich und ausführlich über ihre zutiefst unglückliche Kindheit.

Am ersten Tag hörte ich höflich zu. Am zweiten versuchte ich, ihr eindeutige Hinweise zu geben, dass ich kein richtiges Interesse für ihren Liebeskummer entwickeln kann. Ich bin mir sicher: Jeder gute Berliner hätte kapiert, wenn ich mitten in seinem Satz das Fernsehen angeschaltet und mich einer Volksmusiksendung zugewendet hätte. Vor sich hin jodelnde Menschen guckt man schließlich nicht an, weil man es will, sondern nur, um einer noch schlimmeren Wirklichkeit zu entkommen.

Es nutzte nichts: Die unerschöpfliche Textquelle Veronica fing an mir zu erklären, dass sie nur noch Männer mag, die finanziell für sie sorgen können. Da habe ich einfach – ohne ein Wort zu sagen – die Wohnung verlassen.

Diese Strategie erwies sich als höchst wirksam: Tagelang hing ich in der Bibliothek, im Café, bei Freunden herum. Alle Anrufe auf meinem Handy, die vielleicht von ihr stammen konnten, wurden weggedrückt. Ruhe kehrte ein. Bis ich krank wurde. Eine üble Magen-Darm-Grippe befiel mich, die es erzwang, mich in nächster Nähe eines WCs und eines Bettes aufzuhalten. Der Klatschterror fing sofort wieder an. Aktuelles Thema: die Überlegenheit der amerikanischen Musikszene. Krank, schwach, und in meinem Bett liegend, wuchs die Wut in mir. Ich fragte mich langsam, warum diese Frau überhaupt nach Berlin gekommen war – wenn sie darauf stand, ihre Zeit in meiner Wohnung zu verbringen. Sie sollte endlich die Klappe halten! Und da ist es passiert: „Veronica, shut up“, knurrte ich. „What?“ fragte sie. „Go see something. Something outside my apartment. Go away.“

Es war ein monumentaler Bruch: Meine falsche Freundlichkeit, unfähig, einem solchen Dauerangriff zu widerstehen, hatte den Geist aufgegeben. Und sie wurde durch die hiesige Sitte, ein ganz ehrliches Arschloch zu sein, ersetzt.

Ich will nicht sagen, dass dies eine Verbesserung ist. Ich fand es schon immer pervers, dass die Berliner so stolz auf ihre Schnauze sind. Also werde ich nicht stolz sein, wenn ich in Schöneberg meine vollständige Integration in meine Wahlheimat bekannt gebe. Kein Podest, keine Mikrofone. Ich werde einfach die Treppen hinauf steigen und mich kurz fassen:

„Auck ick ben jetzt een Berliner! Hasda etwa een Problem damit?“