Graue Maus wird Kronzeuge der Demokraten

Mit seinem Buch entlarvt Exfinanzminister Paul O’Neill die Bush-Administration und wird nun als Verräter angesehen

Paul O’Neill sorgte nicht für große Schlagzeilen während seiner zweijährigen Amtszeit als US-Finanzminister im Kabinett von George W. Bush. Auch seine Entlassung im Herbst 2002 regte in Washington niemand auf. Nun steht er auf einmal im Rampenlicht.

In einem Fernsehinterview erhob der 69-Jährige schwere Vorwürfe gegen die US-Regierung und behauptete, die Entscheidung zum Golfkrieg sei bereits lange vor den Terroranschlägen vom 11. September 2001 gefallen. Der Medienauftritt war nur das Vorspiel zu weiteren Enthüllungen aus dem Innenleben des Weißen Hauses. Diese Woche erscheint ein Buch von ihm mit dem Titel „Der Preis der Loyalität“. Darin gibt er sich äußerst unloyal und lässt kaum ein gutes Haar am Regierungsstil seines einstigen Chefs. Er ohrfeigt dessen thematisches Desinteresse und seine mangelnde Kommunikationsfähigkeit. Der Zeitpunkt der Veröffentlichung zum Beginn des Wahlkampfs lassen auf späte Rache schließen. Bush-Gegner fühlen sich nunmehr in dem bestätigt, was sie immer schon wussten: dass der Präsident ein Kriegstreiber ist.

Das Weiße Haus einschließlich der republikanischen Wahlmaschine, für die das neue Jahr so hoffnungsvoll begonnen hatte, schäumt und schreit Verrat. Sie versucht, die brisanten Äußerungen vor allem als Blödsinn und O’Neill als jemanden, bei dem die Sicherung durchgebrannt ist, darzustellen – vielleicht in einer für sie selbst entlarvenden Art. „Niemand hörte auf ihn, als er noch im Amt war“, kommentierte das Weiße Haus nicht etwa ironisch. „Warum sollte irgendjemand es jetzt tun?“

Der konservative Gegenangriff fördert noch mal die Differenzen zwischen O’Neill und der Bush-Regierung zutage. Er glaubte nicht, dass die Steuersenkungspolitik für Reiche der beste Weg sei, die lahme Wirtschaft anzukurbeln, und dass Börsenmakler von der Wall Street die besten Wirtschaftsanalysten seien. Er kritisierte, die Regierung vernachlässige den verarbeitenden Sektor. Er unterstützte eine Verschmutzungssteuer und lehnte die protektionistischen Strafzölle für Stahl ab. Was den Irakkrieg anbetraf, warnte er im Vorfeld vor explodierenden Kosten und einem dramatischen Haushaltsdefizit.

O’Neill galt zwar als wenig effektiver Finanzminister, sein geringer Einfluss lag aber sicher auch daran, dass er ideologisch mit seinem Dienstherrn auf Kriegsfuß stand. Umso beliebter ist er plötzlich bei der Opposition. So nahm Spitzenreiter Howard Dean die pikanten Äußerungen dankbar für erneute Angriffe auf Bush auf und sieht seine Antikriegshaltung bestätigt.

O’Neill drohen nun jedoch juristische Konsequenzen. Das Finanzministerium leitete eine Untersuchung wegen des Verdachts ein, in dem TV-Interview sei ein geheimes Dokument gezeigt worden. Ihm wird zudem angelastet, Geheimdokumente an seinen Ko-Autoren für das Buch weitergegeben und damit gegen Vorschriften verstoßen zu haben. MICHAEL STRECK