„Das Gesundheitssystem ist krank vor Misstrauen“, sagt Ellis Huber

In Deutschland fließt viel zu viel Geld in die Kontrollbürokratie – und viel zu wenig in die Unterstützung der Gesundheit

taz: Herr Huber, Ihre Krankenkasse will die Beiträge von 14,5 auf 12,9 Prozent senken, also um historisch einmalige 1,6 Prozentpunkte. Das Bundesversicherungsamt will Ihnen dies verbieten. Deshalb gehen Sie nun vor Gericht. Ist das nicht ein Werbegag?

Ellis Huber: Oh, nein. Wir haben im vergangenen Jahr mit hohen Beiträgen Überschüsse erwirtschaftet. Wenn man die Einsparungen der Gesundheitsreform dazurechnet, kommt man auf die 12,9 Prozent.

Sie glauben, dass die Gesundheitsreform Geld spart und daher die Beiträge sinken? Mit der Hoffnung sind Sie aber ziemlich allein.

Nein. Wir planen zudem ein besseres Versorgungsmanagement, das effizienter und damit Kosten sparend sein soll. Alle wissen, dass das Gesundheitssystem in Deutschland ökonomisch zerrüttet und moralisch korrupt ist. Die Akteure – Krankenhäuser, Kassen und niedergelassene Ärzte – sehen immer nur die Interessen ihres eigenen Sektors.

Dieser Gegensatz ist unvermeidlich. Die Ärzte geben das Geld aus, die Kassen verteilen es.

Ja. Trotzdem ist es weltfremd, zwischen Finanzierungsverantwortung der Kassen und Leistungsverantwortung der Ärzte eine Grenze zu ziehen. Denn damit kommt es zu einer gigantischen Mittelvergeudung, zu allgemeinem Misstrauen – und deshalb zu der ausufernden Kontrollbürokratie, die wir heute haben. 30 bis 40 Prozent der Kassenmittel fließen in Verwaltungs- und Kontrollprozeduren. Die Gesundheitsreform schafft erstmalig die Möglichkeit, dass sich Ärzte, Krankenhäuser und Kassen gemeinsam über effiziente und verantwortliche Medizin verständigen und das Budget einer Versichertengruppe gemeinsam verwalten. Dann weiß jeder, was der andere wofür ausgibt. Diese „integrierte Versorgung“ wird eine stille Revolution des deutschen Gesundheitssystems bewirken.

Das funktioniert bestenfalls lokal – aber nicht für 70 Millionen gesetzlich Versicherte.

Nun, man muss ein bundesweites Netzwerk aus lokalen Bündnissen schaffen, in dem Erfahrungen und Informationen ausgetauscht werden können. Die blockierte Kommunikation zwischen Arzt und Kollege und Arzt und Krankenhaus ist das eigentliche Qualitätsmanko des deutschen Systems – und das eigentliche Versorgungsproblem ist das mangelnde Vertrauen. Die Leute wissen nicht: Macht der Doktor das meinetwegen oder wegen seines Geldbeutels.

Sie wollen also ein Gegenbündnis zur Bundesärztekammer und zur Kassenärztlichen Bundesvereinigung organisieren und dadurch das Gesundheitssystem retten. All das noch in diesem Jahr?

Natürlich funktioniert das nur mittelfristig. Aber wir haben bereits Kontakt zu Ärzten, etwa einem Berliner Ärztenetz für ganzheitliche Versorgung, und zu etwa 60 Krankenhäusern aufgenommen. Ein Drittel der Ärzte hat die Schnauze voll von der Schmarotzerkultur der offiziellen Ärzteverbände, insbesondere der Kassenärztlichen Vereinigungen. Wenn Pflegefachleute und Psychotherapeuten hinzukommen, werden wir bald ein offen kommunizierendes Netzwerk von 5.000 Kollegen haben.

Die Ärzteverbände regen sich gegenwärtig gemeinsam mit den Patienten über die Praxisgebühr auf. Zeigt das nicht, dass die Verbände sich für die Patienten engagieren?

Nein. Das bedeutet keineswegs, dass die Ärzteverbände aufseiten der Patienten sind. Sie haben Angstpropaganda gemacht, mit der sie Ärzte wie Bürger bloß verunsichert haben. Die Kassenärztlichen Vereinigungen sehen ihre einzige Aufgabe darin, Honorare zu sichern. Hätten sie sich stattdessen um eine optimale preiswerte Versorgung für alle gekümmert, wäre die Praxisgebühr überhaupt nicht nötig geworden.

Jetzt entlassen Sie die Politiker aus der Verantwortung.

Die Politik ist hilf- und weitgehend konzeptionslos. Das Kommunikationsproblem der Mediziner kann sie aber gar nicht lösen. Die Aufgabe der Politik liegt darin, eine Bürgerversicherung zu schaffen: zehn Prozent Beitrag von allen aus sämtlichen Einkünften, ergänzt um Wahlmöglichkeiten und mit neuen Verantwortlichkeiten für die Versicherten. Ein Krankensystem, das den Schwimmbadbesuch nicht bezahlen darf, aber die Blutfettsenker bezahlen muss, führt zur Entsolidarisierung.

Also sollen die Kassen aktiven und verdienenden Menschen ihren Schwimmbadbesuch bezahlen – weil sie deshalb noch keinen Rückenschaden haben.

Die Kassen der Zukunft sind Solidarcommunities, die ein gesundheitsförderliches Miteinander pflegen. Wir werden unsere Krankheitsprobleme nicht lösen, wenn wir nur die Reparaturaufwendungen weiter ausbauen.

Die, die ihr bisschen Geld bei McDonald’s und nicht beim Sport lassen, erreichen Sie so nicht.

Genau wie die Sozialarbeit gemerkt hat, dass man nicht Generationen von Sozialhilfeempfängern bloß in Ghettos ruhig stellen darf, muss auch das Gesundheitssystem die Menschen aktivieren, statt ihnen bloß teure Medikamente zu verabreichen.

INTERVIEW: ULRIKE WINKELMANN