Kakteen im Schaufenster

Neubrandenburg arbeitet am kulturellen Aufschwung. Nach vielen Jahren hat die Stadt in Mecklenburg-Vorpommern darum auch wieder Gefallen an ihrer ehemaligen Bewohnerin Brigitte Reimann und dem ihr gewidmeten Literaturzentrum gefunden

von SANDRA LÖHR

Ängstlich quetscht sich die viel zu groß geratene Shopping-Mall in das sozialistische Bauensemble des Marktplatzes, über den der kalte Wind fegt. Im Innern ist nicht viel los. Auch den anderen Geschäften in der Innenstadt mit den norddeutschen Wykhäusern geht es nicht gut, bei Kaufhof ist eine ganze Schaufensterscheibe mit Kakteen dekoriert. Das Arbeitsamt von Neubrandenburg befindet sich gleich neben dem Bahnhof – als ob es hier nur diese beiden Möglichkeiten geben würde: wegfahren oder stempeln gehen.

Neubrandenburg liegt auf halbem Weg zwischen Berlin und der Ostsee in Mecklenburg-Vorpommern und kämpft mit den Folgen der hohen Arbeitslosigkeit. Die Tristesse lässt sich in nüchternen Zahlen ausdrücken. Vor der Wende lebten hier mehr als 90.000 Menschen. Heute sind es nur noch rund 70.000.

Die schrumpfenden Städte Ostdeutschlands haben neben dem wirtschaftlichen Niedergang alle das gleiche Problem: Das intellektuelle Leben wandert ab. „Wir haben oft Besucher aus Berlin, Hamburg, sogar aus Bremen. Aber uns fehlt einfach der Nachwuchs von hier“, sagt Heide Hampel, Leiterin des Literaturzentrums in Neubrandenburg: „Obwohl das gerade in diesen Zeiten wichtig wäre.“ Zu elitär sei das Zentrum, so der oft geäußerte Vorwurf, wenn es ums Geldverteilen geht. Die Stadt setzt lieber auf das Konzerthaus in der umgebauten Marienkirche. Dabei hat das Literaturhaus in der Gartenstraße so gar nichts Elitäres an sich. Ein bescheidener Neubau, in dem sich ein paar Büroräume und das Brigitte-Reimann-Archiv mit den antiquarischen Möbeln und der Bibliothek befinden. Auch das nach Carwitz ausgelagerte Hans-Fallada-Archiv gehört zum Literaturzentrum.

Heide Hampel will nicht jammern. Noch leisten sich Stadt und Bundesland das Literaturzentrum – aber wie lange? Vor der Wende hatte die Stadt ein breites Kulturangebot: Als eine der 14 Bezirkshauptstädte der DDR besaß Neubrandenburg Verwaltungs-, Partei- und Stasi- Zentralen, dazu Industrie und Militär, die Tausende von Arbeitsplätzen bereitstellten. Die Plattenbauviertel, von denen heute einige leer stehen und die sich wie Jahresringe um die Stadt legen, sind ein stummes Zeugnis dafür, dass sich zwischen 1952 und 1989 die Einwohnerzahl verdreifachte.

Gezielt wurden damals Künstler angesiedelt. Offiziell sollten die Kreativen die Stadt mit ihren sozialistischen Kunstwerken aufwerten. Inoffiziell war sie einfach wegen der schönen Natur ringsum, der lockeren Atmosphäre und dem Schnaps der Marke „Stammarke“ beliebt. 1968 zog auch Brigitte Reimann nach Neubrandenburg, wo sie bis zu ihrem frühen Tod 1973 lebte.

Heide Hampel, eine resolute Mittfünfzigerin, kam 1985 zum Literaturzentrum. Seit damals kümmert sie sich darum, dass Brigitte Reimann nicht vergessen wird. Schon zu DDR-Zeiten kämpfte sie gegen viele Widerstände an. Zwar wurde der posthum erschienene Roman „Franziska Linkerhand“ ein Kultbuch, aber Brigitte Reimann war auch nach ihrem Tod vielen ein Dorn im Auge. Die politische Gesinnung zu unorthodox, der Lebenswandel mit Alkohol, Zigaretten und Männergeschichten zu locker, die äußerliche Erscheinung zu auffällig. „Das alles vergrätzte die kleinen Bürger“, erinnert sich Heide Hampel, „das passte nicht in die brave DDR.“

Nach der Wende wurde es noch schwieriger. Plötzlich interessierte sich niemand mehr für ostdeutsche Künstler – oder für Heide Hampels Literaturzentrum: „1990 hatte man keine guten Karten, wenn man sich mit der DDR-Literatur beschäftigen wollte.“ Nostalgische Ostalgie sei das, was sie da betreibe, wurde ihr nun vorgeworfen. Und dass die Reimann doch eine literarische Null gewesen sei, ein Ziehkind Ulbrichts, die – überzeugt von der Idee und Richtigkeit des Sozialismus – den „Bitterfelder Weg“ gegangen war.

Heide Hampel versuchte die Menschen in Neubrandenburg davon zu überzeugen, dass die eigene DDR-Vergangenheit etwas wert ist und dass sie bewahrt werden muss. Nach viel Überzeugungsarbeit setzte sie durch, dass die Stadt die Villa kaufte, in der Brigitte Reimann zuletzt gewohnt hatte, um sie zum Literaturhaus umzubauen. Doch dann stürzte das marode Haus während der Umbauarbeiten ein und musste am 1. August 1997 abgerissen werden. Heide Hampel hatte das Gefühl, vor dem Aus zu stehen. Aber sie hatte Glück im Unglück. Der erste Band der Tagebücher von Brigitte Reimann war gerade im Aufbau Verlag erschienen und noch nicht einmal der Verlag selber rechnete mit einem großen Erfolg, da besprach der Literaturpapst Marcel Reich-Ranicki das Buch enthusiastisch im Literarischen Quartett: „Ein Parlando, in dem der Odem großer Literatur weht …“ Plötzlich hieß es in Neubrandenburg nicht mehr: Die Hampel spinnt! Sondern: Irgendwas muss an der Reimann ja dran sein.

Seit dem Einzug in den Neubau im Jahr 1999 steht das Literaturzentrum auf einem soliden Fundament, das Interesse an Brigitte Reimann, die in diesem Jahr 30. Todestag und 70. Geburtstag hat, wächst ständig. Eine neue Biografie ist erschienen, ein Dokumentarfilm wurde gedreht, ein neuer Briefwechsel kommt heraus und ab Herbst verfilmt der MDR die Tagebücher.

Heide Hampel macht sich angesichts leerer Stadtkassen trotzdem Sorgen. Wichtiger als der jetzige Erfolg sei, dass das Zentrum sich in Zukunft noch um andere Schriftsteller der Region kümmert und die Literatur- und Kulturgeschichte der DDR weiter erforscht werden kann. „Es muss sie doch geben, die kluge Synthese zwischen dem Notwendigen und dem Schönen“, lässt Brigitte Reimann ihre Heldin Franziska Linkerhand gegen die nüchternen Sparpläne des Systems anhoffen. Vielleicht gelingt sie ja in Neubrandenburg, die kluge Synthese.

Literaturzentrum Neubrandenburg e. V. im Brigitte-Reimann-Literaturhaus. Kontakt: Tel. 0395-571918-0