Russland schlingert

Außenminister Iwanow beschwört das Vetorecht im Sicherheitsrat. Trotzdem könnte Moskau einlenken

MOSKAU taz ■ Russland bleibe dabei: Eine gewaltsame Lösung der Irakfrage sei das allerletzte Mittel. Wenn es die Interessen der internationalen Stabilität erforderten, werde es auch sein Vetorecht im UN-Sicherheitsrat nutzen, meinte Moskaus Außenminister Igor Iwanow auf Visite in China gestern entschieden. Was war geschehen, dass sich der Außenminister mit einer Drohgebärde so weit aus dem Fenster lehnte? Bisher war Moskau auf Samtpfötchen zwischen dem gespaltenen Westen hin- und hergeschlichen.

Offensichtlich hatte das Telefongespräch zwischen US-Präsident Bush und Kremlchef Wladimir Putin am Vorabend für Russland nicht die gewünschten Klarheiten gebracht. Laut Kreml hätten sich beide darauf verständigt, „die Interessen der Weltgemeinschaft“ bei der Lösung der Irakfrage zu berücksichtigen.

Auch Putin hatte anlässlich der Visite Gerhard Schröders am Mittwoch erklärt, eine Resolution des Sicherheitsrates, die das Recht auf einen automatischen Kriegsbeginn enthalte, sei für Russland unannehmbar. Und erst zu Wochenbeginn hatten Frankreich, Deutschland und Russland im UN-Sicherheitsrat ein Memorandum eingereicht, das den Inspekteuren mindestens vier Monate mehr Zeit einräumen will. Vor einer Offiziersversammlung deutete der ehemalige Geheimdienstchef geradezu konspirativ auf „die wachsende Aggressivität einiger sehr einflussreicher Länder“ hin.

Gleichzeitig schickte Putin Alexander Woloschin, den Chef der Kreml-Verwaltung, der über beste Kontakte in die USA verfügt, nach Washington. Dort empfingen ihn nicht nur Sicherheitsberaterin Condoleezza Rice, Außenminister Colin Powell, Vizepräsident Cheney, selbst Präsident Bush fand für den Kurier Zeit. Der Kreml will im Tauziehen um eine Iraklösung Zeit gewinnen und den USA möglichst viele Zugeständnisse abringen.

Dass Putin Woloschin in die USA geschickt hat und den Chef des traditionell antiamerikanischen Außenministeriums nach China, ist nicht nur Arbeitsteilung. Es sagt etwas über die Verteilung der Präferenzen aus, wenn Moskau endgültig Flagge zeigen muss. Der Zuschlag wird an Washington gehen, daran zweifeln die meisten Beobachter inzwischen nicht mehr. Offen ist nur: Zu welchem Preis?

Dennoch steht für Moskau auch einiges auf dem Spiel. Auf den ersten Blick erweckt das Bündnis mit Washington gar den Anschein, als laufe es russischen Interessen zuwider: Rolle und Funktion des UN- Sicherheitsrates könnten Schaden nehmen, immerhin das letzte Gremium, das an die einstige Bedeutung der Supermacht erinnert. Vielleicht wird der transatlantische Schulterschluss auch beim größten Handelspartner, der EU, für Verstimmung sorgen. Außerdem scheint noch nicht geklärt, welche Versicherungen Washington den russischen Wirtschaftsinteressen für die Post-Saddam-Ära einzuräumen bereit ist. Andererseits meinte die Wremja: „Das Verhältnis zum alten Europa ist nicht so verlockend, dass es sich lohnen würde, das gegenseitige Verständnis und die warmen Beziehungen zu George Bush zu gefährden“.

Genau das denkt Wladimir Putin, der bereits am 11. September 2001 die strategische Entscheidung fällte, sich an die USA anzukoppeln, auch auf die Gefahr hin, dass es im europäischen Konzert zu Dissonanzen führen könnte. Das Kalkül des Kreml ist einfach: Im Fahrwasser des Pentagons zurück zur Weltgeltung. Dann wäre man nämlich auch bereit, statt der vielbesungenen Multipolarität mit einer „binären Unilateralität“ vorliebzunehmen. KLAUS-HELGE DONATH