Tausend verschiedene Arten von Schmerz

Nenn es eben Electropunk: Mit schwarzen Sonnenbrillen und schwarzem Humor traten die Krachmusik-Pioniere Suicide im polar.tv auf

Auch so kann man alt werden. Martin Rev mit seinem schütteren Haar, den engen schwarzen Klamotten, der schwarzen Lederjacke und der gleichfalls schwarzen Sonnenbrille repräsentiert den zeitlosen Velvet-Underground-Chic. Alan Vega in seinem schwarzen Overall, dem schwarzen Samthemd, der ärmellosen schwarzen Armyweste mit dem schwarzen Stirnband und der gleichfalls schwarzen Sonnenbrille sieht aus wie ein Nebendarsteller aus einem stockbrutalen italienischen Söldnerfilm der späten Siebziger. Beide sind um die fünfzig und bilden zusammen Suicide, jene sagenumwobene Electropunk-Combo, der ein solch legendärer Ruf vorauseilt, dem Genüge zu tun eigentlich für jeden halbwegs zurechnungsfähigen Menschen eine ständige Überforderung darstellen müsste.

1977 erfanden Suicide jenen Crossover aus brachialem Synthie-Gebolze, Punkhaltung und nihilistischem Geschrei, das seither alle paar Jahre wieder aufgewärmt wird – augenblicklich nennt es sich Electroclash. Im Prinzip ist diese Musik ganz einfach. Ein brutaler Loop, der den Rhythmus vorgibt, stoisch immer weiterläuft und an dem sich nicht viel verändert. Dazu Lyrics, die vom Ende aller Tage künden. Darüber, darunter, daneben und dazwischen: sägender Krach.

Doch was für ein Krach. Wenn in Pulpromanen der Held den Bösewichtern in die Hände fällt und diese anfangen, ihn durch die Mangel zu drehen, dann reflektiert dieser oft: Er habe ja keine Ahnung gehabt, wie viele unterschiedliche Arten von Schmerz dem menschlichen Körper zugefügt werden können. Ähnliches kann man für Suicide sagen: Man macht sich keine Vorstellung, wie viele verschiedene Arten von Krach es gibt. Welch reiches und vielfältiges Universum sich da auftun kann.

Wie ein verrückter Wissenschaftler steht Martin Rev hinter seinem Pult und seine Grimassen scheinen anzuzeigen, dass er mit jeder Berührung seines alten Synthesizers nicht nur Stromstöße in die Boxen jagt, sondern sie auch selbst empfängt. Es sind nur ein paar wenige Tasten, die er spielt. Mal streichelt er sie, mal kitzelt er sie, und mal schlägt er mit geballten Fäusten auf sie ein.

Alan Vega torkelt dazu über die Bühne, raucht eine halbe Schachtel Zigaretten leer, singt ab und zu davon, dass alles tot ist, verschwindet mitten im Stück backstage, kommt wieder, singt noch mal, dass alles in Flammen steht, stellt sich an den Bühnenrand und hebt einen Arm, macht Bewegungen, als würde er sich mit Luft voll pumpen, was einigermaßen grotesk aussieht, dreht sich um, will wieder nach Backstage, fällt hin, steht wieder auf, verschwindet, kommt wieder, singt ein paar Zeilen, dass sein Bruder tot ist und es so nicht weitergehen kann, dann fällt ihm der Rest nicht mehr ein, also bellt er kurz wie ein Hund. Irgendwann dreht er sich um und winkt ab, als wolle er sagen: Ist eh alles zu spät.

All das wird dargeboten mit der souveränen Größe desjenigen, der seit über 25 Jahren nichts anderes macht, als Abend für Abend in miesen Clubs für das Geld anderer Leute den nihilistischen Hampelmann zu geben, als Nacht für Nacht stellvertretend für ein antibürgerlich gestimmtes Publikum die radikale Verweigerungshaltung zu verkörpern. Obwohl sich bei Suicide Stumpfheit und konzeptionelle Brillanz verbinden wie sonst nur bei Scooter und den Ramones, hat es zum großen Erfolg nie gereicht. Suicide sind vor allem ein succès d’estime, ein Kritikerliebling.

Auch das polar.tv ist gerade einmal zur Hälfte gefüllt, viel mehr als hundert Zuschauer sind es kaum. Verrückte Welt. So wird es wohl sein, wenn man Alan Vega ist: Man verliert sogar den Glauben daran, darzustellen, den Glauben verloren zu haben.

TOBIAS RAPP