Endlich foltern!

Helgoland – das schreckliche Geheimnis einer Insel im diesigen Januar (Ende)

Was bisher geschah: Helgoland-Bewohner Enno Hinrichs berichtet von seltsamen, nächtlichen Vorgängen auf der Insel. Hans Grünhagen von der Nordsee-Zeitung weiß, dass Brandenburgs Innenminister Jörg Schönbohm etwas mit den Aktivitäten zu tun hat. Fred Feddersens Propellermaschine wird bei einem Rundflug über Helgoland beschossen. Krämer oder Kaufmann oder wie auch immer auch der Folterer heißt, er hat mitgearbeitet im „Jörg-Schönbohm-Institut für physische Pädagogik“ (JSI).

Enno Hinrichs erinnert sich, wie die Stimmung auf Helgoland kippte. „Sie kamen abends oft in die Gaststätte. In den ‚Anker‘. Im Winter hat ja hier sonst nichts auf. Die saßen immer am gleichen Tisch, haben Bier getrunken und geschwiegen. Aber ein komisches Schweigen. Gewalttätig. Voller Hass. So war das, würde ich sagen. Schweigender Hass. Auf wen auch immer.“

Gegen Mitternacht gingen die Männer auf Toilette, um sich dort zu schlagen. Sie waren besoffen und haben unentwegt und pausenlos aufeinander eingehauen. Sie kämpften stumm, ohne zu reden, ohne zu schreien, nur die Geräusche des Kampfes selber, die Schläge und Tritte und das Brechen von Knochen und Kiefern und zerquetschten Nieren. Es war irreal, sagt Hinrichs. Einfach irreal. Wie in einem düsteren Horrorfilm.

Ein Kutter tuckert vorbei. In Bremerhaven gehen die Lichter an. Nebel über der See. Hinrichs kehrt zurück in sein Hotel, bevor die Nässe unter die Wäsche kriecht. „Rheuma“, sagt er, „da bin ich empfindlich.“

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Hans Grünhagen ist bei der Nordsee-Zeitung, seit man in Bremerhaven denken kann. Seine Familie kommt aus Pommern, vor den Russen geflohen, der Vater ist in Sibirien geblieben. Noch zwei Jahre, dann kann er in den Vorruhestand. Er schnäuzt in ein riesiges Taschentuch mit Monogramm, das er aus seiner Cordhose zieht.

Er erzählt, dass ihm die Ordner mit den geheimen Unterlagen über Schönbohms „Institut“ nicht aus dem Sinn gegangen sind. Kompletter Blödsinn, aber zu komplett, zu verwirrend, es hat ihn verfolgt. Dann, zwischen den Jahren, er hatte Urlaub, rief er einfach an. Beim Innenministerium. In Berlin. „Ich dachte, die lachen mich aus. Haben die aber nicht. Die haben rumgedruckst, mich weitervermittelt, meine Adresse aufgeschrieben und gesagt, ich soll am nächsten Tag wieder anrufen. Zwei Stunden später stand das Auto vor dem Haus mit zwei Typen drin. So mit Fernglas. Die fuhren gar nicht wieder weg. Da habe ich Feddersen angerufen. Was er von einer kleinen Spritztour hält.“

Hans Grünhagen steckt sein Taschentuch zurück in die Cordhosentasche. Er hatte die größte Story der letzten Jahre. Die heißeste Geschichte seines Journalistenlebens. Er brauchte sie nur noch zu veröffentlichen. Aber Jörg Schönbohm war schneller.

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Am Freitag, den 3. 1. 2004, 10.43 Uhr, erhält die Deutsche Presse-Agentur das erste Fax aus dem Bundesinnenministerium. „Die Bundesregierung hat heute morgen, 6 Uhr 30, mit der Räumung von Helgoland begonnen. Ab 12:00 Uhr Ortszeit ist es nur noch autorisierten Personen erlaubt, Helgoland zu betreten und/oder sich dort aufzuhalten. Die Insel wird mit sofortiger Wirkung zum Sperrgebiet erklärt.“

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Fred Feddersen drosselt den Motor. Die Maschine sackt leicht ab. Der Horizont ist endlos. Ein schöner Tag, kein Schneetreiben wie gestern, sondern blauer Himmel und Sonne. Immer noch verzerren Sprünge in der Scheibe der Pilotenkanzel das einfallende Sonnenlicht. Von den Schüssen. „Weiter kann ich nicht fliegen“, schreit Feddersen gegen den Krach der Motoren an, „sonst holen die uns runter.“

Hinter den Wellen taucht Helgoland auf. Die Insel liegt friedlich im Meer. Aus der Ferne sind nur graue Bunker zu erkennen und kleine Punkte, die sich auf dem Strand bewegen. Vielleicht Affen, vielleicht Menschen. Dahinter die lange Anna. Und auf den Wellen tanzen die vertäuten Helgoländer Börte. Mit denen wurden früher die Festlandgäste von den Ausflugsschiffen ausgebootet, die auf Reede vor der Insel ankerten.

Feddersen wirft einen langen Blick auf die Insel, dann dreht er ab. Es ist nur eine halbe Stunde bis zum Festland, doch der Flug scheint eine Ewigkeit zu dauern – so lange, wie man braucht, um einem Albtraum zu entrinnen, der Wirklichkeit geworden ist.

VOLKER HEISE

Mehr Informationen finden Sie auf: www.helgoland.de