Freie Bahn nach Olympia

Jens Lehmann wurde bei der WM vom eigenen Verband ausgebootet. Weil er danach nicht im Vierer fuhr, flog er sogar aus dem Nationalteam. Nun soll er doch wieder für Deutschland starten dürfen

„Wenn ich in Frankfurt gewinne, habe ich bewiesen, dass ich es noch kann“

AUS LEIPZIG FRANK KETTERER

Davon erfahren hat Jens Lehmann am frühen Dienstagabend und von Journalisten. Erst rief einer zu Hause bei ihm in Leipzig an, dann ein zweiter, schließlich noch einer und noch einer und noch einer. „Das Telefon hat drei Stunden nicht mehr stillgestanden“, erzählt Herr Lehmann – und alle wollten sie wissen, wie er die aktuellen Entwicklungen im Fall, der seinen Namen trägt, aufgenommen habe, und wie groß der Grad der Erleichterung nun sei. Ergiebig Auskunft konnte der Olympiasieger im Bahnradfahren den Pressemenschen allerdings nicht geben, er hatte es ja gerade eben erst und von ihnen erfahren: dass der Bund Deutscher Radfahrer (BDR) seinen Ausschluss und den des Erfurter Daniel Beckes aus der Nationalmannschaft „mit sofortiger Wirkung ausgesetzt“ hat, wie es in einer Pressemitteilung heißt. „Lehmann und Becke haben ab sofort die Möglichkeit, im Rahmen der mit dem NOK abgestimmten Nominierungskriterien für internationale Wettkämpfe und die Olympischen Spiele in Athen ihre Eignung unter Beweis zu stellen“, wird BDR-Präsidentin Sylvia Schenk darin zitiert.

Auch am Tag danach ist Jens Lehmann vorsichtig, wenn er den Stand der Dinge kommentieren soll. Natürlich: Er freut sich, schließlich hat er lange darauf gewartet, dass Bewegung in die Sache gerät. Andererseits ist er merklich darum bemüht, seine Gefühle zu bremsen, schließlich hat von den BDR-Offiziellen noch keiner mit ihm gesprochen. „Wenn es so ist, wie es heißt“, formuliert der 36-Jährige deshalb eher defensiv, „ist es für alle das Beste.“ Soll heißen: Er kann sich im Sommer in Athen seinen Traum von der dritten Olympia-Teilnahme erfüllen und seine große Karriere damit gebührend zu Ende bringen; der BDR wiederum hat mit ihm, dem erfolgreichsten deutschen Bahnradfahrer aller Zeiten, ein heißes Medaillen-Eisen im olympischen Feuer. Zweimal Gold bei Olympia, 1992 und 2000, im Vierer hat der Mann aus Leipzig gewonnen, zweimal Olympiasilber in der Einerverfolgung, zudem sechs WM-Titel plus weitere sieben WM-Medaillen. Lehmann sagt: „Die Entscheidung des BDR ist eine sportliche Entscheidung.“

Und sie ist notwendig geworden durch eine ziemliche Unsportlichkeit, die sich bei der Bahnrad-WM letzten Juli in Stuttgart zugetragen und dazu geführt hat, dass erstmals seit 1962 kein deutscher Bahnvierer am Start stand. Seinen Beginn nahm der Eklat freilich schon ein paar Tage vor der Veranstaltung und bei der Auswahl, wer die Einerverfolgung fahren sollte. Lehmann galt als gesetzt, sportlich qualifiziert war er ohnehin – und wurde zwei Tage vor dem Wettbewerb und nach einem mehr als undurchsichtigen Auswahlverfahren doch durch den Potsdamer Robert Bartko ersetzt. „Mich hat selten etwas so tief getroffen und gedemütigt“, sagt Lehmann im Rückblick. „Ich habe meine Kinder fast ein halbes Jahr so gut wie nicht gesehen, weil ich dauernd im Trainingslager war, um bei der WM noch einmal eine Gala bieten zu können.“ Und dann das: ausgebootet, vom eigenen Verband, einfach so. Dass Bartko dann lediglich Sechster wurde, machte die Angelegenheit nur noch peinlicher für den BDR. Lehmann sagt noch heute: „Ich wurde um eine mögliche Medaille betrogen.“

Im Vierer wollte er, nach einigen Krisengesprächen, dennoch starten, schon um seine Olympiateilnahme diesen Sommer in Athen nicht zu gefährden. Bis es auch da zu Ungereimtheiten bei der Nominierung kam: Bartko und vor allem der für den Vierer nicht qualifizierte Berliner Guido Fulst sollten kurzfristig ins Team rücken, der dafür eigentlich vorgesehene Sebastian Siedler hingegen in die Röhre schauen. „Das“, sagt Lehmann, „war der absolute Höhepunkt.“ Und es kam zu jener Erklärung, in der Lehmann und seine Mannschaftskollegen Daniel Becke, Christian Bach sowie Sebastian Siedler mitteilten, „dass wir unter diesen Bedingungen nicht bereit sind mit Guido Fulst, Robert Bartko und unter Leitung unseres Bundestrainers Bernd Dittert zu starten“, in anderer Besetzung aber „gerne“ an den Start gingen. Kurz darauf meldete der BDR seinen Vierer ab, der Skandal war perfekt – und Lehmann plötzlich ein Rebell.

Ein halbes Jahr später sitzt Jens Lehmann in seinem schönen Haus in Leipzig-Engelsdorf, schüttelt den Kopf und sagt: „Das hat uns alle überrascht. Das hat keiner gewollt. Unsere Erklärung war keine Boykottandrohung, sondern der Wunsch, den Vierer mit den Besten fahren zu wollen.“ Der Leipziger sagt auch: „Ich bin kein Rebell.“ Darauf legt er Wert, es ist ihm wichtig. Man kann ihm das glauben. Beim BDR hat das mancher dennoch nicht getan: Lehmann wurde für zwei Jahre aus der Nationalmannschaft ausgeschlossen, seine Kollegen ebenso. Olympia, so viel schien festzustehen, würde ohne den Leipziger stattfinden.

Seitdem ist der Fall Lehmann ein Fall für die Rechtsanwälte, die viel verhandelt haben mit dem BDR – mit wenig Erfolg, wie es lang schien. Noch Anfang des Jahres lehnte der Verband ein außergerichtliches Vergleichsangebot von Lehmanns Rechtsvertretern, der Münchner Kanzlei Nachmann & Kollegen, ab. Die Strafe wurde nach einem Beschluss des BDR-Rechtsausschusses zwar um acht Monate verkürzt, hätte aber immer noch bis Jahresende angedauert – und damit bis nach Olympia. Lehmann hätte zwar, eine Entschuldigung beim BDR vorausgesetzt, ein Gnadengesuch stellen können, doch selbst wenn dieses positiv beschieden worden wäre, hätte der Verband dem Leipziger ganz offensichtlich lediglich die Olympiaqualifikation für die Einerverfolgung gewährt, nicht aber für den Vierer. Schon zuvor hatte der BDR Daniel Becke ein solches Angebot unterbreitet: Einer ja, Vierer nein. Becke lehnte ab – und kündigte an, gerichtlich gegen seine Strafe vorzugehen.

„Die Entscheidung des BDR ist eine sportliche Entscheidung – und für alle das Beste“

Vielleicht hat dies die BDR-Oberen abgeschreckt – und dazu geführt, dass das Präsidium nun den Beschluss seines eigenen Bundesrechtsausschusses revidiert hat, um, so die Pressemitteilung, damit den Weg frei zu machen, „sich in Zukunft weniger auf rechtliche als auf sportliche Erfolge konzentrieren zu können“. Vielleicht ist auch einfach nur Vernunft eingekehrt.

Wie auch immer, Jens Lehmann ist das egal. Hauptsache, er er ist wieder im Rennen. „Ich möchte eine faire Chance, mich qualifizieren zu können“, sagt der 36-Jährige, „nicht mehr, aber auch nicht weniger.“ Wie es aussieht, wird er sie erhalten, doch noch, und schon am 10. Februar in Frankfurt (Oder). Dort findet eine erste Olympiasichtung statt, danach will der BDR festlegen, mit wem er die Weltcups bestückt. Der Weg nach Olympia führt nur über die Weltcups.

Vielleicht also ist das Rennen in Frankfurt (Oder) das wichtigste in Herrn Lehmanns Leben. „Wenn ich dort gewinne“, sagt er, „habe ich bewiesen, dass ich es noch kann.“ Nichts anderes treibt ihn um seit gut einem halben Jahr, dafür hat er sich all die Monate geschunden „wie ein Verrückter“, wie Ehefrau Gabi erzählt – und obwohl er nicht wusste, ob es Sinn macht, er war ja gesperrt. Es hat Sinn gemacht, Lehmann sitzt wieder im Sattel. „Ich fahre nach Frankfurt (Oder), und ich werde dort versuchen, so schnell wie möglich zu fahren“, sagt der Olympiasieger. Er sagt auch: „Ich bin sehr erleichtert.“